Breaking News
sich Björklund seine Preise und Auszeichnungen besehen, die er einst für Reportagen über guatemaltekische Indios, kalabresische Mafiadörfer und den Alltag in Teheran bekommen hatte, und entschieden, es sei an der Zeit, wieder andere Dinge abzulichten als immer nur zerschossene Häuser, Blutlachen undVermummte mit Kalaschnikows. Was in der Konsequenz bedeutete, sich aus dem überhitzten Tageszeitungsgeschäft zurückzuziehen und nach Art freier Fotografen der Dinge zu harren, die da kommen.
Und sie kamen.
Nordeuropas Hochglanzmagazine entdeckten ihn für opulente Fotostrecken, und Björklund begann die Welt durch das Objektiv seiner Kamera wieder als Ganzes wahrzunehmen.
Er sah mehr Krisengebiete denn je.
»Ich meine, was ist heute kein Krisengebiet? Letztes Jahr hatten wir eine Strecke über die Serengeti, danach Fat Acceptance, diese Bewegung, bei der schwabbelige Amerikaner um ihr Recht kämpfen, schwabbelig sein zu dürfen. Allein in Mississippi sind 44 Prozent aller Kinder übergewichtig, wenn das keine Krisengebiete sind.« Zuckt die Achseln, schlürft seinen Cappuccino. »Verstehst du, ich hab kein Problem mit Krisen. Ich will nur nicht mehr bis zu den Knöcheln im Blut stehen.«
Darum ist er jetzt auch nicht in Homs oder Damaskus, sondern hier, zusammen mit einem Nahost-Korrespondenten des deutschen Magazins, für das er gerade arbeitet, um die Stimmungslage in Israel zu erfassen. Ein paar Tage Tel Aviv, dann rüber nach Jerusalem, Abstecher in die Westbank, zwei Siedlungen besuchen, Abschluss im geschundenen Süden, alles ohne Zeitdruck.
Beinahe ein Urlaub.
»Vielleicht schieben wir sogar noch Nablus und Ramallah ein und holen uns ein paar palästinensische O-Töne.«
»Komfortabel.«
»Na ja.« Björklund kratzt sich hinterm Ohr. »Es gibt schon einen konkreten Aufhänger. Gilad Shalit.«
»Seid ihr da nicht ein bisschen spät dran? Der Austausch ist vor zwei Wochen über die Bühne gegangen.«
»Die Familie hat uns ein Interview in Aussicht gestellt.«
Nicht schlecht, denkt Hagen.
Denn bis jetzt hat Shalit nicht viel gesagt. Ägyptens Vermittlerrolle geschuldet, musste er im dortigen Fernsehen einer mitleidlos lächelnden Reporterin Rede und Antwort stehen, die den ausgemergelten Jungen drängte, sich für die Freilassung gleich aller inhaftierten Palästinenser einzusetzen. Shalit erklärte, er freue sich auf seine Familie und Freunde, sei glücklich, nicht mehr jeden Tag das Gleiche tun zu müssen, man habe ihn gut behandelt, er hoffe, der Austausch trage zum Frieden bei. Und, ja, alle Palästinenser sollten zu ihren Familien zurückkehren dürfen, Hauptsache, sie fielen nicht gleich wieder über sein Land her.Dann sagte er noch, es ginge ihm nicht besonders, der ägyptische Simultanübersetzer verkündete, es gehe ihm prima, eine Farce. Danach durfte er endlich nach Hause, während im Gazastreifen gejubelt und in die Luft geschossen wurde.
Seitdem ist Gilad Shalit verstummt.
Er hat fünf Jahre in einem Erdloch gesessen.
Er ist todmüde.
Aber das geht natürlich nicht. Schön, dass er sich freut, wieder zu Hause zu sein, aber wie ist es ihm wirklich ergangen? Die Welt will die schäbigen Einzelheiten hören, unterhalten werden, durchs Schlüsselloch gucken, doch Shalits Familie schirmt den Jungen ab. Sie bewahrt ihn davor, sich vor laufenden Kameras die Haut vom Leib ziehen zu müssen. Meist redet sein Großvater, manchmal sein Vater, während Gilad den Schlaf des Vergessens schläft.
»Könnte allerdings sein, dass er sein Nickerchen für uns unterbricht«, sagt Björklund.
»Weil ihr die Guten seid«, spottet Hagen. »Ihr werdet ihm keine indiskreten Fragen stellen.«
»Natürlich nicht.«
»Alles nur –«
»– zu seinem Besten!«
Ihr alter running gag, wenn sie mal wieder jemanden in der Mangel hatten. Auch heute lachen sie ein bisschen darüber. Auf Zehenspitzen tasten sie sich in die Vergangenheit zurück, reden schließlich sogar über die aktuelle Lage in Afghanistan.
Nur über Inga reden sie nicht.
Das letzte Mal, als sie über Inga geredet haben, war Weihnachten 2008.
Das letzte Mal, dass sie überhaupt miteinander geredet haben.
Spaziergang entlang der Außenalster. Der Atem kondensiert zu Sprechblasen, es ist frostig.
In jeder Beziehung.
»Du hättest sie aus der Sache raushalten müssen.«
»Es war ihre Entscheidung.«
»Erzähl keinen Scheiß. Inga wusste doch gar nicht, was sie wollte.«
»Sie war Reporterin, sie –«
»Sie war eine Volontärin !
Weitere Kostenlose Bücher