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haben weiß Gott viele Tote gesehen, doch immer war es zuvor darum gegangen, wer wen als Ersten zur Strecke bringt, und irgendwann wurde der Tod, wie Gidon festgestellt hat, banal.
Das hier hingegen –
Sie helfen den Menschen, geben ihnen Wasser zu trinken, Brot zu essen. Jetzt, da sie nach Sabra mit seinen mehrgeschossigen Häusern und breiteren Straßen vorstoßen, begegnen ihnen immer mehr Überlebende. Frauen in langen, schwarzen Gewändern irren umher, klagende Schatten ihrer selbst, suchen nach Angehörigen und Freunden.
Graben mit bloßen Händen im Schutt.
Laute erreichen Uris Ohr, die eher an verwundete Tiere erinnern als an menschliche Wesen.
Er versucht, sie zu bloßen Geräuschen zu reduzieren.
Schallwellen.
Sagt sich, du bist in der Notaufnahme, bist in der Notaufnahme, sein Mantra, du bist in der Notaufnahme, in der Notaufnahme, doch in der Notaufnahme wird gerade gestreikt.
Was hat das hier mit Frieden für Galiläa zu tun?, fragt er sich.
Jemand singt.
Eine heitere Melodie, der erste versöhnliche Klang überhaupt, den er wahrnimmt, seit sie das Lager betreten haben. Der klare Sopran einer Frau schlängelt sich heran, wie ein Lichtstrahl berührt die schlichte Tonfolge sein Herz und weckt seine Neugier.
Er dreht den Kopf, versucht die Sängerin auszumachen.
Die Stimme kommt aus einer der Gassen, die von der Hauptstraße abzweigen, wenig mehr als eine im Schatten liegende Schlucht voller Andeutungen.
Uri zögert.
Dann geht er hinein.
Nach wenigen Metern ist der Durchgang versperrt.
Männer, Halbwüchsige. Ihre Leiber türmen sich übereinander, der menschliche Wall macht die Gasse unpassierbar.
Er blendet sie aus, lauscht. Hört die Stimme aus dem Hauseingang rechts von ihm. Etwas Entrücktes und zugleich Lockendes liegt in dem Timbre, und in Uri gehen alle Alarmsignale los.
Mach, dass du hier rauskommst, sagt er sich.
Aber da dringt er schon in das Haus ein, passiert den Vorraum, seine Hände teilen den Perlenvorhang zum Nebenraum, leise klackern die Schnüre, dahinter die junge, singende Frau.
Sein Blick fällt in ihre wahnsinnigen Augen.
Auf das, was sie in ihren Armen hält.
In Uris Kopf wird eine Kerze ausgeblasen.
Dunkelheit legt sich über ihn, stygische Schwärze. Nur die Frau istnoch zu sehen, für alle Zeiten in ihm eingebrannt. Von nun an wird sie ihn jede Sekunde seines Lebens begleiten, nie mehr wird er einschlafen oder aufwachen, ohne ihr Lied zu hören, falls er überhaupt je wieder wird schlafen können.
Er weiß es ganz einfach. So wird es sein.
Sein Körper wird dieses Lager verlassen.
Sein Geist bleibt für immer hier.
Gaza, Elei Sinai, November
Phoebe wandelt durch Amaryllis.
Die Luft im Treibhaus ist warm, es riecht nach Erde. Keine Blüte durchbricht das Grün der Blätterteppiche. Sie haben so ziemlich jede Sorte hier angepflanzt, weiße, rosa, orange, gestreifte, gesprenkelte, geränderte und tiefdunkelrote Amaryllis, welch verschwenderische Pracht, würden sich alle Kelche gleichzeitig öffnen, womit dann allerdings auch Phoebes und Jehudas Kapital verschwendet wäre. Blühen sollen sie erst in Amerika, pünktlich zur Adventszeit.
Und bis dahin dauert es mindestens ein Jahr.
Noch sind die Amaryllis viele Monate davon entfernt, überhaupt verschickt zu werden.
Rittersporn, wie Dror Katzenbach sagen würde.
Katzenbach, der Phoebe immer mal wieder über die Schulter schaut.
Im August etwa, als Jehuda ihr eröffnete, arbeitslos geworden zu sein, ausgebootet von Alison Titelmann, dieser elenden Schlampe. Ein Schock, aber heilsam. Phoebes von Küchengerüchen narkotisierter Verstand begann wieder zu arbeiten. Ihr Sohn war im Krieg, Jehuda stand ohne Alternative da, ihre journalistische Nebentätigkeit gab zu wenig her, um die Familie zu ernähren. Sie konnte die Realität nicht länger ausblenden, und da gerade mal wieder Katzenbach zu Besuch in ihrem Kopf war, sagte sie:
»Egal. Dann pflanzen wir eben Amaryllis.«
»Amaryllis?« Jehuda stierte sie verständnislos an.
»Ja.«
»Warum denn ausgerechnet Amaryllis?«
»Weil ich Amaryllis mag. Und weil mir jemand erzählt hat, in Südgaza, unten in Ganei-Tal, würden sie die Zwiebeln für den amerikanischen Markt züchten und ein Bombengeschäft damit machen.«
Und weil ich es jemandem versprochen habe.
Katzenbach.
Als ich versuchte, ihn und die Geiseln zu retten. Spontane Eingebung. Hab ihm erzählt, Jehuda und ich planten, ins Amaryllis-Geschäft einzusteigen. Was nicht stimmte. Nie haben wir
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