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unmöglich. Mittlerweile hat der Rauch der brennenden Fahrzeuge Rebellen angelockt, Kämpfer der Misrata-Brigade, die ganz besonders schlecht auf ihren alten Boss zu sprechen sind und jetzt wie Haie der Blutspur folgen.
Es ist die Stunde der Hobbyfilmer.
Gaddafi und Dao hocken in einer Betonröhre unter der Hauptstraße. Oben wird nicht mehr groß gekämpft, die Sache ist gelaufen. Wer gestellt wird, ergibt sich. Die Suche nach dem Bruder Führer beginnt, und was hat man nicht schon alles in Abwasserrohren gefunden.
Sie zerren ihn heraus.
Videos entstehen, Aufnahmen wie durch den Wolf gedreht. Eben noch sieht Gaddafi ganz gesund aus, dann blutet er. Jemand hat auf ihn geschossen. In die Beine, sagen die einen, unter die Achsel, in den Kopf, meinen die anderen. Natürlich ist jeder bemüht, ihm kein Haar zu krümmen, alle sind durchdrungen von der Ehrfurcht vor den Menschenrechten, außerdem will man den alten Mann ja vor Gericht stellen. Es kann also nur ein Versehen sein, dass einige ihn auf die Pritsche eines Pick-ups ziehen und ihm eine Eisenstange in den Arsch rammen, und die Schnitte, die seinen Körper kreuz und quer überziehen, da muss er wohl böse gestürzt sein.
Die Schussverletzungen?
Querschläger im Gefecht.
Ein Gefecht, das zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr stattfand.
Gaddafi durchlebt multiple Schicksale.
Stirbt jeden erdenklichen Tod.
Einmal mehr ist Al Jazeera ganz nah dran, wenn auch nicht nah genug, um das Mysterium der Todesumstände zu lüften, was eine erfreuliche Nachberichterstattung verspricht. Sie streuen die Nachricht als Erste, AP und Reuters greifen sie auf, mit Lichtgeschwindigkeit durcheilt sie das Netz, und die Meldungen überschlagen sich. Die Gaddafi Horror Picture Show flimmert in jedes Wohnzimmer, wer Artikel schreiben kann, der schreibt.
Schreibt die Story, die Hagen gerne geschrieben hätte.
So aber schreibt Tom Hagen gar nichts.
Vorübergehend liegt er in tiefer Ohnmacht, wacht kurz auf, erbricht sich und sackt wieder weg. Dämmert dahin, während sie im Feldlazarett die Platzwunde nähen, die ihm das herabfallende Trümmerteil im Moment, als er aus dem zerstörten Wohnblock hastete, eingetragen hat, vertrauen ihn einer Gruppe Sanitäter an, die nach Tripolis wollen. Die nehmen ihn mit und verfrachten ihn ins Matiga-Krankenhaus. Kaum zu fassen. Vor sechs Wochen war er dort noch zur Berichterstattung. Hat verwundete Rebellen und Gaddafi-Soldaten interviewt, die in getrennten Räumen untergebracht waren, der Gaddafi-Sektor streng bewacht, um die Patienten an der Flucht zu hindern, wohl eher aber, um sie zuschützen, da sie in ständiger Gefahr schwebten, gelyncht statt medizinisch versorgt zu werden.
Jetzt liegt er selbst hier.
Damals schrien alle: »Nieder mit Gaddafi!«
Heute hätten sie Grund zum Jubeln, aber es bleibt ihnen kaum Zeit dazu. Wie Bodennebel stehen die Ausdünstungen des Todes im Raum, betäubend riecht es nach Desinfektionsmitteln. Das Krankenhaus ist hoffnungslos überfüllt. Trotzdem nehmen sie sich brav Hagens Schädel an, schieben ihn in die Radiologie und kümmern sich um ihn, so gut sie können, wozu gehört, ihn für die nächsten 24 Stunden dazubehalten.
Er protestiert.
Sie zucken die Achseln.
Er spuckt Gift und Galle.
Zwecklos.
Am liebsten würde er abhauen. Kann er vergessen. Wann immer er aufsteht, dreht sich die Welt um ihn herum, und sein Kopf fühlt sich an, als wolle das Gehirn zu den Ohren raus. So ist er auch nicht in Misrata, als deutsche Journalisten einen ersten Blick auf Gaddafis nackte Leiche werfen, die sie dort zur Schau stellen wie einen erlegten Alligator.
Nicht mal den toten Diktator kann er sehen.
Die Ärzte meinen, er solle froh sein. Erklären ihm, er sei haarscharf am Schädelbasisbruch vorbeigekommen, und was für unverschämtes Glück er gehabt habe.
Hagen sieht das anders.
Wenn das Glück ist, sagt er sich, im entscheidenden Moment von einem verfluchten Stück Stein ausgeknockt zu werden, dann ist Fortuna eine sadistische alte Schlampe.
Als es endlich besser wird, werfen sie ihn raus. Sie brauchen die Betten. Trotz des Elends ringsum ist die Stimmung unter den Patienten sichtlich gehoben. Wenigstens wissen sie jetzt, dass sich die Opfer gelohnt haben. Einige machen das Siegeszeichen, als er seine Siebensachen packt. Er solle über sie schreiben. Dass sie jetzt keine Rebellen mehr seien, sondern Bürger des freien Libyens.
Würde ich ja gerne, denkt er.
Was glaubt ihr, was ich alles schreiben
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