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wollte.
Ein holländisches Korrespondententeam nimmt ihn mit nach Sirte, wo sich die Gewalt in sinnloser Endlosschleife weiter entlädt. Man muss einräumen, das Gros der Sieger geht durchaus freundlich und respektvoll mit den Verlierern um. Eigentlich sind es nur die aus Misrata, die jeden Sirter drangsalieren, unabhängig davon, auf wessen Seite erstand und steht. In Misrata scheint man zudem zu glauben, alle Sirter seien unermesslich reich gewesen, dabei gibt es hier ebenso viele einfache und arme Menschen wie anderswo auch. Egal. Die Stadt ist dem Fokus des Interesses entrückt, keiner schaut noch genau hin. In den Straßen herrscht Landsknechtmentalität, es wird geplündert, vergewaltigt und geschossen, man könnte auch sagen, die Befreiung dauert an.
Hagen sucht nach jemandem, den er kennt. Irgendwer muss ihn schließlich aus der Schusslinie gezogen und in Sicherheit gebracht haben. Daoud vielleicht oder der Kommandeur oder wer auch immer.
Doch er trifft niemanden mehr an.
Der Kommandeur, erzählt ihm schließlich jemand, sei zurück nach Bengasi gegangen.
Aha. Man könnte also nach Bengasi fahren.
Sich bedanken.
Man könnte auch nach Nordkorea fahren.
Man könnte vieles tun.
Zum Beispiel das letzte Interview mit Kim Jong Il führen, bevor er sich in die Mystifizierung verflüchtigt. Versuchen, seinem prallen Sohn ein paar halbwegs artikulierte Sätze zu entlocken. Nach Syrien reisen, das gerade in einen Bürgerkrieg taumelt. Baschar al-Assad observieren, den vielleicht schon bald Gaddafis Schicksal ereilen wird. Wie viele Despoten gibt es, denen man beim Sterben ein Mikro unter die Nase halten kann?
Man könnte, man könnte –
Man könnte durchdrehen.
Die Chance seines Lebens.
Vorbeigerauscht.
Wusch! Einfach so.
Einen vergeudeten Tag lang läuft er ziellos durch die Gegend, schmiedet Pläne und verwirft sie wieder. Das Bild des Jungen auf dem Dach steht ihm vor Augen. So vieles steht ihm vor Augen, dass es sich zusammenfügt wie ein Bretterzaun, hinter dem die Zukunft nicht mehr auszumachen ist.
Dann fliegt er nach Damaskus, um sich zu besaufen.
1948
Israel, Tel Aviv
Am Nachmittag des 14. Mai 1948 scheint die Sonne heller, leuchten die Palmen auf dem Rothschild Boulevard grüner, ist die Luft klarer und jedes Geräusch purer Wohlklang. Selbst der schroffe Quader, vor dem sich eine wachsende Menschenmenge drängt, mutet weltstädtisch und erhaben an, auch wenn das Tel Aviv Museum of Art bei nüchterner Betrachtung den Charme eines Bunkers ausstrahlt. Das Bauhaus-Fieber hat der Stadt ihr einzigartiges Erscheinungsbild aufgeprägt, Totalausfälle inklusive. Bald wird die Nummer 16 wieder als Beispiel dafür herhalten, wie man es nicht machen sollte, heute ist sie der Mittelpunkt des Universums.
»Und du bist sicher –?« Rachel lässt den Satz unvollendet. Skepsis und Hoffnung in ihrem Blick führen ihn zu Ende.
»Ganz sicher«, lächelt Jehuda.
»Ich meine ja nur. Es ist ein Gerücht.«
»Es ist, wovon seit November jeder weiß, dass es passieren wird, und heute passiert es halt.«
»Nur dass keiner da ist.«
»Wie bitte?«
»Also, ich sehe jedenfalls niemanden.«
»Halb Tel Aviv tritt sich auf die Füße, und du siehst niemanden?«
»Dummkopf. Ich sehe keinen von denen .«
»Ja, weil eben noch keiner von denen da ist.«
Rachel schweigt. Schaut an sich herunter. Überprüft den Sitz ihrer Bluse, zupft an den Kragenenden, man könnte den Eindruck gewinnen, Ben Gurion käme eigens nur für sie.
»Vielleicht aber doch«, sinniert sie.
»Vielleicht aber was?«
»Vielleicht sind sie schon drin.«
»Bestimmt nicht.«
»Warum nicht? Wir könnten zu spät gekommen sein.«
»Mutter«, seufzt Jehuda im Tonfall des beginnenden Rollentauschs. »Die Frage ist nicht, ob wir zu spät sind, sondern ob die zu spät sind, also geh mir nicht auf den Wecker.«
Sie lacht und verwuschelt sein Haar.
»Mein kleiner Optimist.«
Der kleine Optimist sucht aus eins neunzig Blickhöhe die Menge nach bekannten Gesichtern ab.
»In der Einladung stand 16 Uhr«, sagt er. »Reichlich Zeit.«
Schon während der Hinfahrt hat Rachel ihn fortgesetzt genervt, sie würden es nicht rechtzeitig schaffen. Falls es überhaupt stattfände. Der Witz ist, dass keiner von denen, die hier in der Mittagssonne ausharren, zu der Veranstaltung eingeladen wurde, geschweige denn ein entsprechendes Schreiben erhalten hat. Dennoch ist allgemein bekannt, dass bezüglich des Erscheinens was von »dunkel festlich« drinsteht,
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