Breaking News
den Armen, schlägt auf. Kommt auf die Beine, rennt weiter, über die Barriere, den Ostflügel entlang. Zur Luke.Die Leiter runter, mehr Springen als Klettern, zum Treppenschacht, abwärts, abwärts, abwärts, durch die zertrümmerte Eingangshalle nach draußen.
»Gaddafi!«, schreit er wie von Sinnen. »Er haut ab! Distrikt 2! Er haut ab, Gaddafi haut ab! Er –«
Die Ruinen wechseln ihre Position.
Himmel und Wasser werden eins, schwappen ihm entgegen, das Aquarell eines Verrückten.
Alles fließt ineinander.
Dann nichts mehr.
21. Oktober
Gaddafi, heißt es, habe zuletzt die Welt nicht mehr verstanden, doch das stimmt nicht ganz.
Gerade am Ende hat er sie sehr wohl verstanden.
Er hat sie so gesehen, wie sie ist.
Nicht dass der Bruder Führer plötzlich in den Stand der Weisheit gelangt wäre. Das nun wirklich nicht. Und den Begriff Demut anzuwenden, bloß weil er sich in den leer stehenden Häusern von Sirte angewöhnt hatte, seinen Tee selbst zu kochen und hektisch im Koran zu blättern, dazu mag sich nicht mal sein alter Kumpel Mansur Dao versteigen, ehedem Kommandant der Revolutionärsgarden und bis zuletzt an seiner Seite.
Nur, im August war Gaddafi noch viel blinder.
Als er nämlich auf Drängen seines Sohnes Muatassim samt zehnköpfiger Entourage nach Sirte floh, erwartete ihn da immerhin eine halbwegs fidele Millionärsszene, die ihm alles zu verdanken hatte. Und die überschlug sich förmlich im Bemühen, ihm seine Illusionen zu erhalten. Während die Medien ihn in Burkina Faso, Niger oder irgendeinem Beduinenzelt vermuteten, stolzierte er in den Luxusvillen seiner Protegés herum, aß Me’chouia und Buriq, köstlich gewürzten Couscous, Datteln, Lammhackwürstchen und gefüllten Fenchel, ließ sich Auberginen mit Harissa, Thunfischtaschen und Trauben schmecken, trank arabischen Kaffee und wähnte sich im Besitz aller Optionen. Seine Gastgeber erzählten ihm, was er hören wollte. Gestärkt von so viel Zuspruch griff er dann zum Satellitentelefon und ließ über Arrai TV , einen befreundeten syrischen Fernsehsender, wunderliche Durchhalteparolen verbreiten: »Erhebt Euch in Millionen, befreit Tripolis!« und Ähnliches. Die Aufrufe kamen über die Menschen mit der Regelmäßigkeit von Sandstürmen und hinterließen ebenso viel Eindruck, nämlich keinen, aber Gaddafi erzählten sie natürlich hinterher, alle hätten begeistert aufgeschrien.
Im August, da war er noch ein Herrscher.
Wenigstens in Sirte.
Dann nahmen die Rebellen Sirte in die Zange.
Am 9. September begannen die Angriffe. Die Millionäre flohen. Flakgeschützsalven und Granaten verwüsteten ihre Domizile, und wo so eine NATO -Bombe hinfällt, weiß man ja auch nie ganz genau. In den Villen jedenfalls konnte Gaddafi nicht bleiben. Noch gab es ein Netzwerk aus Geheimdienstmännern, Stammesbrüdern und Freiwilligen, die ihn, so gut es eben ging, mit dem Nötigsten versorgten. Die ersten Tage der Belagerung waren ein Zuckerlecken gegen das, was dann kam. Verlassene Häuser, in denen alles zerstört war, was sich als zivilisatorische Errungenschaft bezeichnen ließ. Der ständige Albtraum, entdeckt zu werden. Fast jede zweite Nacht umziehen. Kein Strom, kein Wasser, kein Radio, kein Fernsehen, nichts, und sein Satellitentelefon, über das er so gern zu seinen fehlgeleiteten Kindern sprach, musste er ausgeschaltet lassen, weil man ihn darüber hätte orten können.
Also hockte er da. Blind, taub und stumm.
Und die Schlinge zog sich zu.
Eingekesselte Despoten, muss man sagen, verhalten sich fast immer gleich. In ihren schäbigen Verstecken, angesichts schwindender Lebensmittel, mangelnder Hygiene und näher kommender Einschläge, entwickeln sie ein fast kindlich rührseliges Verhalten. Mit großen Augen fragen sie, was los sei. Ich bin doch Präsident. Geliebter Führer. Aller Handlungsfähigkeit beraubt, beginnen sie an der kosmischen Ordnung selbst zu zweifeln und empfinden das Leben als ungerecht.
Und damit liegen sie ganz richtig.
Im Moment, als Gaddafi die Welt verfluchte, hatte er die ihr zugrunde liegende Dramaturgie endlich verstanden: eine Posse, deren Protagonisten von einem sich selbst entwickelnden Drehbuch durch die Kulissen gescheucht werden, ohne dass höhere Mächte Sympathien verteilen. Sich selbst als Verursacher des Unrechts zu begreifen, wäre ihm nie eingefallen, also hatte Mansur Dao fortan einen jammernden Sack am Bein, ein larmoyantes Monster, das im einen Moment wutentbrannt nach Strom und fließendem Wasser
Weitere Kostenlose Bücher