Breed: Roman (German Edition)
Zwillingen. »Er wird uns auf den Fersen bleiben, aber ich wette, er hat Angst, euch einfach so zu schnappen.«
In der schmalen, von Osten nach Westen führenden Straße, an der die Schule steht, staut sich der Verkehr. Irgendwo zwischen Fifth und Madison Avenue hat ein Lastwagen angehalten, und die Fahrer der Wagen, die dahinter steckenbleiben, drücken hektisch auf die Hupe. Ein erbärmliches Tröten erfüllt die Luft, als hätte man eine Herde Elefanten zusammengetrieben, die nun fürchtet, abgeschlachtet zu werden. Auf beiden Seiten der exklusiven Wohnmeile werden diskret Jacquardvorhänge zur Seite gezogen, und in den Fenstern der zwanzig Millionen Dollar teuren Stadthäuser tauchen finster blickende Gesichter auf.
Als sich die drei der Kreuzung mit der Madison Avenue nähern, riskiert es Michael, die Kinder auf die Straße zu ziehen, zwischen zwei im Stau steckenden Taxis, und sobald sie auf der anderen Seite sind, läuft er mit ihnen in westlicher Richtung auf die Fifth Avenue zu. Sein Instinkt sagt ihm, dass sie eine bessere Chance haben, Twisden zu entkommen, wenn sie es irgendwie zum Central Park schaffen. Aber Alex lässt sich nicht so leicht abschütteln. Statt ebenfalls gleich die Straße zu überqueren, hält er Schritt mit ihnen, und gerade, als er auf ihre Seite überwechseln will, löst der Verkehrsstau sich plötzlich auf, und Alex muss einige Augenblicke stehenbleiben, um auf eine Lücke zu warten.
Michael spürt eine Gelegenheit zu entkommen: Der Lieferwagen einer Firma, die ans Haus gefesselte und wohlhabende Kunden mit Lebensmitteln versorgt, bremst ab und kommt direkt links von der kleinen Gruppe zum Stehen, sodass die drei vorläufig dahinter verborgen sind.
Im selben Moment hören sie hinter sich ein Rollen und Rumpeln, und als sie sich praktisch synchron umdrehen, sehen sie Jugendliche, die auf dem Gehsteig Skateboard fahren, tief in der Hocke und anscheinend ohne Rücksicht auf die Fußgänger, die ihnen hastig aus dem Weg springen.
»Das ist Rodolfo«, sagt Alice mit erregtem Zittern.
»Rodolfo?«, wiederholt Michael fragend.
»Eigentlich heißt er Richard, aber alle nennen ihn Rodolfo«, sagt Alice. In ihrer Stimme schwingt der Stolz mit, den Kinder empfinden, wenn sie die Antwort auf eine Frage wissen. »Ich hab ihn im Park getroffen.«
»Hey, Mann«, sagt Rodolfo, als er neben Adam rollt und ihm den Arm um die Schultern legt. Dabei stößt er ihn fast um.
Der Fahrer des Lieferwagens steckt sich eine Zigarette an und öffnet das Fenster, um den Rauch entweichen zu lassen.
Rodolfo und seine Kumpels umringen die drei – manche kennt Alice bereits, andere nicht. Es ist nicht klar, wer ein Junge und wer ein Mädchen ist, und es scheint eigentlich auch nicht besonders wichtig zu sein. Alle ähneln sich auf eine ganz bestimmte Weise – es ist, als würden sie von mehr Energie durchströmt, als ihr Körper aufnehmen kann. Impuls, Appetit, Sexualtrieb, Mutwilligkeit ringen in ihnen miteinander wie Affen in einem Wäschesack. Einer der Skater schüttelt ständig den Kopf wie ein Schwimmer, der versucht, Wasser aus seinem Gehörgang zu bekommen, aber das ist vielleicht doch eher ein Mädchen. Ein anderer, mit Pferdeschwanz, dünn wie eine Bohnenstange und nach Rauch und verbranntem Kaffee stinkend, tritt auf das hintere Ende seines Skateboards, wodurch das Vorderteil abrupt hochschnellt. Irgendwie hat das Chaos allerdings etwas Planmäßiges an sich. Die Kids bilden einen Ring um Michael und die Zwillinge, wodurch sie diese am Weitergehen hindern, aber auch vor den Blicken anderer verbergen.
»Folgt mir«, sagt Rodolfo. Er schnieft, schnaubt, räuspert sich und lässt die Schultern kreisen.
»Sag mal, wer bist du eigentlich?«, fragt Michael.
»Ich wohne gleich da drüben.«
»Habt ihr uns verfolgt?«, fragt Alice.
»Wir haben euch gesehen«, sagt Rodolfo. »Kommt schon, jetzt ist keine Zeit zu faseln.«
Er führt sie zu einem stattlichen, vierstöckigen Stadthaus aus rostroten Ziegeln mit weißen Fensterrahmen. Offenbar hat es kürzlich den Besitzer gewechselt und wird nun entkernt. Am Straßenrand stehen zwei mit Schutt gefüllte dunkelgrüne Stahlcontainer. Über die zur Haustür führenden Stufen hat man eine Sperrholzrampe gelegt, um mit Schubkarren Sand und Ziegel herauszuschaffen.
»Wo sind deine Eltern?«, fragt Alice.
»Keine Ahnung«, sagt Rodolfo. Er legt den Arm um sie, zieht sie zu sich herum und schnuppert an ihrem Haar.
»Lass das«, sagt sie und schiebt ihn
Weitere Kostenlose Bücher