Breed: Roman (German Edition)
Konflikte«, sagt Adam.
»Wir wissen nicht mal, was Konflikte sind«, fügt Alice hinzu.
Michael hört etwas, ein raues Flattern, eine unheilvolle Verdrängung von Luft – und die drei anderen hören es ebenfalls. Alle heben den Kopf und blicken in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. Dort, hinten im Haus, ist ein Raum, in dem der halbe Boden entfernt worden ist, sodass nun die hundertzwanzigjährigen Balken sichtbar sind, auf denen die Dielen befestigt waren. Auf dem Teil des Bodens, der noch intakt ist, liegt ein Haufen Abdeckplanen, mit Farbe und Gips bespritzt. Einen Moment lang sieht es so aus, als würde sich etwas unter diesem Haufen regen …
Und da, auf einem Balken oberhalb der Planen, hockt eine Taubenfamilie, zwei große Elternvögel, grau und rosa, mit angesichts der Kälte aufgeplustertem Gefieder, und zwei Nestlinge mit hellgrauen Daunen, Entenküken nicht unähnlich. Eine der Tauben würgt etwas, das aussieht wie verdorbener Hüttenkäse, aus ihrem Schlund in den weit aufgesperrten Schnabel eines Kükens.
»Cool«, sagt Rodolfo, »’n Taubenbaby hab ich noch nie gesehen.« Er leckt sich die Lippen und macht einen Schritt vorwärts.
»Die werden von den Eltern versteckt, bis sie flügge sind«, sagt Adam. »Das Zeug, das die Große in das Baby kotzt, heißt Kropfmilch; die wachsen dadurch total schnell.«
»Ist das die Mutter, die sie füttert?«, fragt Rodolfo.
»Das tun beide, die Mutter und der Vater«, sagt Adam.
»Erstaunlich«, sagt Michael. »Es ist, als würden sie ihren Küken etwas von ihrem eigenen Körper geben, um ihnen beim Wachsen zu helfen.«
»Bei uns zu Hause ist es ziemlich anders«, sagt Alice.
Vollständig wird Cynthia sich nie von dem Anblick erholen, den Xavier bietet – sein linker Arm ist fast nicht mehr vorhanden und besteht nur noch aus Knochen mit einigen daranhängenden Fleischfetzen, die aussehen wie rote, am Lenker eines Kinderfahrrads flatternde Bänder; aus seiner linken Seite hat man mehrere Streifen Menschenfleisch geschält. Als sie sich jedoch einigermaßen gefasst hat, überlegt sie, wie sie ihn aus seinem mit Blut und Ausscheidungen besudelten Käfig befreien kann. Als ihr nichts einfällt, stolpert sie die Treppe hinauf, wobei sie unablässig auf ihrem Smartphone, das in dem tiefen, schallgedämmten Keller keinen Empfang hat, den Notruf wählt, bis sie schließlich im Hausflur steht und mit einer Frau mit jamaikanischem Akzent verbunden wird. Diese erkennt sofort die Kombination aus Hysterie und Erstarrung in Cynthias Stimme und spricht in tröstlichem, aber sachlichem Tonfall mit ihr. Der Rettungswagen werde in wenigen Minuten da sein, sagt sie beruhigend, und als Cynthia, den Tränen nah, erklärt, die Polizei müsse ebenfalls kommen, versichert sie ihr, das werde auch geschehen. »Bitte halten Sie durch, das schaffen Sie doch, ja?«, sagt sie, und die schlichte Menschlichkeit dieser Frage berührt Cynthia so sehr, dass sie zu schluchzen beginnt.
Das Rettungsteam und die Polizei kommen gleichzeitig an. Cynthia dirigiert die Männer in den Keller, wo sie Xavier bewusstlos in seinem Käfig vorfinden. Statt ihnen zu folgen, hat Cynthia sich auf einen hübschen, zierlichen Kirschholzstuhl gesetzt, der nahe der Kellertür an der Wand steht. An diese drückt sie sich mit geschlossenen Augen und hängendem Kopf und spürt, wie in ihrem Magen ein dicker Brei aus Galle rumort, hört, wie die Polizisten und Sanitäter miteinander sprechen, hört, wie sie den Käfig aufbrechen, hört einen von ihnen rufen: »Auf drei!«, und dann hört sie weiteres Gemurmel, dringlich, aber unverständlich.
Zuerst kommen die Sanitäter aus der Tür. Sie haben Xavier auf eine Trage geschnallt und bis zum Kinn mit einem Laken bedeckt, das sich langsam rot färbt. Als Nächstes erscheinen die beiden Polizisten, die Cynthia festnehmen, ihr ihre Rechte vorlesen und sie dann aus dem Haus führen, wobei beide sie am Rücken berühren.
Eines der Taubenküken hat sich aus seinem Nest gewagt und hüpft den Balken entlang. Rasch verliert es das Gleichgewicht und fällt stracks zu Boden. Es versucht nicht einmal, mit den Flügeln zu flattern oder seinen Sturz irgendwie aufzuhalten oder abzupolstern. Glücklicherweise landet es auf den Abdeckplanen direkt darunter.
Die älteren Tauben sind in einen Zustand extremer Aufregung geraten. Sie gurren, bewegen rasch den Kopf vor und zurück und sträuben die Federn. Trotz ihrer offenkundigen Besorgnis dauert es einige Momente,
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