Breed: Roman (German Edition)
Alice.
»Hier hab ich meinen Hund Casper gefunden … nachher.« Das sagt er in übertrieben fröhlichem Ton und reibt sich dabei die Hände wie ein Magier, der gleich jemandem eine Münze aus dem Ohr ziehen wird. »Eigentlich hab ich an jedes Zimmer hier im Haus ’ne üble Erinnerung. Oben hab ich meine Eltern mal dabei erwischt, wie sie Sex hatten. Da hat mein Vater mich die Treppe runtergeworfen, und dann ist meine Mutter runtergekommen, und ich hab gedacht, sie wird mir helfen, aber da hab ich mich geschnitten. Und im Bad hab ich unsere Katze gefunden. Die hieß Shirley MacLaine.« Rodolfos Blick fällt auf ein altes Telefontischchen aus Mahagoni, das auf drei Beinen an dem lehnt, was von der Wand übrig geblieben ist. Er hebt es hoch, als würde es praktisch nichts wiegen, stemmt es über seinen Kopf und wirft es nach den Dielen über sich, von denen es mit einem scheußlichen Krachen abprallt.
Die Kinder zucken zusammen. Michael blickt sich um, weil er feststellen will, ob man noch auf anderem Wege ins Haus hinein-oder hinausgelangen kann. Dann sieht er auf seine Armbanduhr. Es ist halb zwölf. Normalerweise hat er ein untrügliches Zeitgefühl – im Unterricht weiß er ohne einen Blick auf die Wanduhr, wie lange es noch bis zum Ende einer Stunde dauert, und zu Hause braucht er keine Eieruhr, um zu wissen, wann er die im siedenden Wasser tanzenden Eier herausnehmen muss, um sie perfekt weich zu bekommen. Jetzt aber ist er so durcheinander, als wäre er in eine neue Dimension geraten, in der
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hoch vier geschrieben wird. Mit hinreichender Sicherheit weiß er nur, dass er mit den Zwillingen mindestens eine Viertelstunde in diesem Haus bleiben muss, bevor sie sich wieder auf die Straße wagen können. Das ist alles, was ihm momentan klar ist. Mehr kann er mit all seiner Lebensweisheit und Erfahrung nicht sagen. Eine Viertelstunde stecken sie hier fest.
Von draußen: die Sirene eines Feuerwehrautos, die hektisch von den Fassaden der Häuser widerhallt. Dann die grelle Hupe eines Lastwagens, so kraftvoll wie das warnende Röhren eines herandonnernden Güterzugs. Könnte es ein deutlicheres Sinnbild einer aus den Fugen geratenen Welt geben als einen Feuerwehrwagen, der hinter einen Parkplatz suchenden Autos feststeckt, während irgendwo ein Haus in Flammen steht?
Auf Michael wirkt der Lärm beunruhigend, für die Zwillinge und Rodolfo ist er hingegen unerträglich. Sie pressen die Hände auf die Ohren, kneifen die Augen zu, ziehen die Schultern hoch und schneiden Grimassen, als täte ihnen etwas weh.
Als der Feuerwehrwagen endlich durchkommt und das Heulen verklingt, nehmen die Kinder die Hände von den Ohren und atmen erleichtert auf.
»Macht euch keine Sorgen wegen eures Vaters«, sagt Rodolfo.
»Der ist total stark«, sagt Adam.
»Und schnell«, fügt Alice hinzu.
»Das ist doch völlig wahnsinnig«, sagt Michael.
»Wir haben überhaupt nichts falsch gemacht«, sagt Adam.
»Genau«, stimmt Alice zu. »Überhaupt nichts. Jedenfalls nichts Schlimmes. Es ist einfach nicht …«
»Es ist nicht fair«, sagt Adam.
»Genau«, sagt Alice. »Er ist verrückt. Beide sind das.«
»Niemand wird euch umbringen«, sagt Michael. »Oder euch wehtun.« Doch selbst in seinen eigenen Ohren klingen diese Worte und die Stimme, mit der er sie ausspricht, schwach und wenig überzeugend.
»Es ist etwas verkehrt mit ihnen«, sagt Adam. »Total, total verkehrt.«
»Früher waren sie nett«, sagt Alice.
»Manchmal sind sie es immer noch«, sagt Adam. Er macht sich plötzlich Sorgen, mit seiner Kritik zu weit gegangen zu sein, weshalb seine Eltern durch dunkle magische Kräfte erfahren könnten, wo die beiden sind.
»Manche von den Eltern versuchen, ihren Kindern nicht wehzutun«, sagt Rodolfo weise nickend. Er spricht zu den Zwillingen, als wäre er viele Jahre älter als sie.
»Ich glaube, deshalb haben sie uns eingesperrt«, sagt Alice.
»Moment mal«, mischt sich Michael ein. »Wo haben sie euch eingesperrt?«
Adam und Alice verstummen. Man hat ihnen immer beigebracht, die Familiengeheimnisse zu bewahren, und selbst jetzt, da sie auf der Flucht sind, ist die Furcht, ihre Eltern zu verraten, gewaltig und deutlich spürbar.
»Also, hört mal, Leute«, sagt Michael in der Hoffnung auf viele, viele Gründe dafür, dass die Situation, in der er sich befindet, nicht so absurd ist, wie es scheint. »Alle Kinder haben Konflikte mit ihren Eltern. Auch ich hatte welche mit meinen – große sogar.«
»Wir haben keine
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