Breed: Roman (German Edition)
weg.
»Na, dann vielleicht später«, sagt er.
Rodolfo läuft die Rampe hoch und winkt Michael und die Zwillinge zu sich. Michael blickt über die Schulter und hofft inständig, dass der Lieferwagen immer noch zwischen ihnen und ihrem Verfolger steht. Der Wagen hat sich zwar inzwischen wieder in Bewegung gesetzt, aber jetzt ist Twisden von Rodolfos Kumpels umringt, die alles Mögliche tun, um ihm den Blick zu verstellen.
Die Schlösser der massiven, geschnitzten Haustür sind ausgebohrt und mit rosa Kitt aufgefüllt worden, und nun ist die Tür durch ein Vorhängeschloss gesichert. Allerdings sind die Bolzen der Platte, an der das Schloss hängt, gelockert worden, und als Rodolfo die Schulter gegen die Tür rammt, geht diese sofort auf.
»Er wird uns finden!«, ruft Adam, während Rodolfo die drei ins Haus zieht.
So feucht und kühl es draußen ist, im Innern dieses Hauses herrscht eine noch eisigere Kälte. Der tiefe, erdige Duft von Zement, Sand, Gips und Lehm vermischt sich mit dem irgendwie beunruhigenden Geruch von zersägtem und gesplittertem Holz und von verschmorten Elektrokabeln. Dazu kommt die nervöse Ausdünstung eines verzweifelten Menschen, der nachts kommt, um die Kupferdrähte, Rohre und anderen Metallreste zu plündern, die er weiterverkaufen kann. Trotz des zeitlichen Abstands weiten sich die Nasenlöcher der Zwillinge, als sie den süß-sauren Geruch von mit billigem Brandy und Risperdon gesättigtem Schweiß wahrnehmen, der durch die Poren dieses Mannes gedrungen ist.
Gebrochene Stäbe aus schwachem grauem Licht dringen durch die hastig über die Fenster genagelten Bretter. Der Hausflur erinnert die Zwillinge an den ihres eigenen, etwa zwanzig Straßen weiter südlich gelegenen Hauses. Obwohl sie auf Pappe stehen, auf der sich die schmutzigen Abdrücke vieler, vieler Arbeitsstiefel mit geriffelten Sohlen befinden, stellen sie sich vor, dass darunter dasselbe honigfarbene Parkett wie zu Hause liegt, vielleicht sogar mit denselben sternförmigen Intarsien. Trotz allem, gegen jede Logik und gegen jeden Selbsterhaltungstrieb, sehnen Adam und Alice sich mit der offenherzigen Hilflosigkeit von Kindern nach zu Hause. Wie alle jungen Säugetiere sind sie genetisch geprägt, ihren Eltern zu vertrauen und zu glauben, dass die Wesen, die sie auf die Welt gebracht haben, ihre Zuflucht in einer herzlosen Welt darstellen. Das ist in ihrem Gehirn, es ist in ihrem Rückenmark; es ist ihre grundlegende und notwendige Veranlagung zu glauben, dass Mutter und Vater da sind, um sie zu beschützen, und an diesem Instinkt halten sie fest, egal wie zwingend der Beweis fürs Gegenteil auch sein mag. Selbst jetzt, als sie diese Illusion aufgeben und um ihr Leben laufen, überschattet Zweifel jede ihrer Bewegungen, da sie auf eine Realität reagieren, die eigentlich unvorstellbar ist, eine Wahrheit, die sich ständig wie eine Lüge anfühlt, geschaffen von ihren eigenen Schwächen oder von ihrer fiebrigen Phantasie.
»Hast du dir mal gewünscht, du wärst bloß adoptiert?«, fragt Rodolfo Adam.
»Nein.«
Rodolfos Gesicht verzieht sich wie Gummi zu einem Grinsen, das fast pferdeartig aussieht. »Meine Leute mussten das Haus hier verkaufen. Die neuen Besitzer haben ein paar Typen angestellt, um alles zu renovieren, und die haben ’ne Menge total abgedrehtes Zeug gefunden. Jetzt sind die Besitzer vor Gericht gezogen, um ihr Geld wiederzukriegen, aber was denkt ihr? Das Geld ist futsch, und Mr. und Mrs. Pomerantz ebenfalls.« Rodolfo winkt mit der Hand, als wollte er dem Bild seiner Eltern, das ihm im Gedächtnis hängt, adieu sagen.
»Wir bleiben vorläufig hier. Da sind wir erst mal in Sicherheit«, flüstert Michael.
»Vielleicht«, sagt Adam. Zuerst überlegt Michael, ob Adam seinen Plan anzweifelt, doch dann wird ihm klar, dass das
vielleicht
besagt, von
Sicherheit
könne keine Rede sein.
»Ich zeig euch mal, wie meine Bude ausschaut«, sagt Rodolfo mit einer einladenden Geste. Er führt sie tiefer ins Haus, in ein Zimmer, das früher vielleicht als Salon gedient hat, inzwischen aber so gründlich auseinandergenommen wurde, dass nur noch die Wände übrig sind, ungetünchte Holzplatten, die Dämmmaterial aus Glasfaser enthalten. Die Decke ist vollständig entfernt worden, sodass der Blick auf den Boden des Obergeschosses frei ist, bestehend aus breiten Eichenbohlen, aus denen die mattsilbernen Spitzen langer Teppichnägel ragen.
»Das war ein sehr trauriges Zimmer«, sagt Rodolfo.
»Wieso traurig?«, fragt
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