Breed: Roman (German Edition)
diese Personen wie mit einem Schleier verhüllt sind, der sie unwirklich werden lässt.
Was das Kommen und Gehen in den teuren kleinen Gärten unten angeht, so kann man dort während der warmen Monate oft allerhand unterhaltsame Dinge betrachten, doch seit Anfang November sind die Gärten leer, von den allzeit emsigen Tauben und Eichhörnchen und ein paar fetten Ratten abgesehen. Mehrfach, einmal kurz vor der Morgendämmerung und einmal gegen Mitternacht, hat Dorothy gesehen, wie Mr. Twisden in seinem Garten ein Loch gegraben und dann etwas in einem blauen Plastiksack verscharrt hat, aber er hat sich dabei so gelassen und selbstsicher verhalten, dass es ihr nicht in den Sinn gekommen ist, es könnte sich um etwas Ungehöriges handeln.
Heute Nacht sieht sie jedoch etwas so Aufregendes, dass es sie von ihrem Stuhl aufscheucht. Da sie so lange gesessen hat, können ihre Beine ihr gewaltiges Gewicht nicht tragen, weshalb sie sogleich wieder auf den kostspieligen, orthopädisch konstruierten Schreibtischstuhl zurückfällt, den sie sich zu Beginn ihres Maultierbuchprojekts gegönnt hat. Aber selbst als sie schnaufend und keuchend dasitzt, sieht sie es: Ein kleiner Junge klettert durch ein Fenster auf die Feuerleiter. Zuerst denkt Dorothy, das Nachbarhaus wäre in Brand geraten, weshalb bald das ganze Viertel in Flammen stehen könnte, besonders das Haus, in dem sie wohnt, und dann wäre sie in Todesgefahr. Deshalb zwingt sie sich erneut zum Aufstehen, und diesmal schafft sie es bis an ihr Fenster. Da steht er, der Junge, und blickt in den Himmel – er sieht nicht wie ein Kind aus, das aus einem brennenden Haus entkommen ist. Allerdings sieht er zu jung aus, als dass er sich nachts heimlich hinausschleichen würde, um seine kleine Liebste zu treffen. Dorothy drückt ihren fülligen Leib ans Fenster, um einen besseren Blickwinkel zu haben, dann späht sie hinaus, ohne irgendwelche Anzeichen für Flammen oder Rauch zu sehen. Nichts außer diesem einsamen Kind bewegt sich.
Du lieber Himmel! Fast wäre der Junge von der Feuerleiter gefallen, doch er richtet sich auf. Und nun geht er auf ein erleuchtetes, etwa drei Meter entferntes Fenster zu. Dorothy schnauft so heftig, dass ihr feuchter Atem das Fenster beschlägt. Als sie es abgewischt hat, hat sich zu dem Jungen ein weiteres Kind gesellt, genauso groß wie er. Ein Mädchen vielleicht, wenngleich Dorothy sich da nicht sicher ist. Sie ist selbst einmal schmal und dürr gewesen und musste zum Essen gedrängt werden. Einmal ist sie sogar auf die Lebenseiche geklettert, die das kleine Königreich des Gartens ihrer Kindheit in Baton Rouge beherrscht hat …
Plötzlich sieht sie die beiden Kinder die eiserne Leiter hinab klettern, deren Ende hin und her schwankt wie die Spitze eines Blindenstocks. Die zwei sind im Garten, laufen durchs Tor, sind fort.
Kinder
, sagt Dorothy zu sich selbst. Tja, die Show ist vorbei. Sie sammelt sich und will an ihren Schreibtisch zu ihrem Buch und ihrer Tüte Maischips zurückkehren, als sich unvermittelt ein Kopf aus dem Fenster des Jungen reckt. Das muss der Vater sein. Dorothy hat ihn oft gesehen, diesen gutgebauten, unfreundlichen Mann, oft mit einem in die Stirn gezogenen Hut, warm gekleidet, selbst wenn angesichts des Wetters eigentlich kurze Ärmel angebracht gewesen wären … Er blickt nach links, nach rechts, nach oben und dann nach unten, und vergeudet schließlich keine Zeit mehr damit, sich an die Illusion zu klammern, die Kinder seien irgendwie noch in der Nähe. Das Fenster schlägt zu, und als Dorothy von ihrem hinteren Fenster zum vorderen Teil ihrer Wohnung getrottet ist, sieht sie sowohl den Vater wie die Mutter auf der Straße. Die beiden stehen im matten, wabernden Lichtkegel einer Straßenlaterne und berühren sich nervös, während sie die Straße auf und ab blicken. Sie heben das Gesicht. Was tun sie denn da? Schnuppern sie in der Luft? Wie merkwürdig. Doch, das tun sie. Sie schnuppern eindeutig in der Luft.
Nachdem sie sich einen Moment beraten haben, geht die Mutter in die eine Richtung, während der Vater in eine andere Richtung hetzt. Dorothy behält ihn im Blick. Er bleibt stehen, reckt den Hals, um weiter sehen zu können, und tut dann etwas, was sie buchstäblich fast umwirft: Mit einer scheinbar mühelosen Bewegung springt er vom Gehweg aufs Dach eines parkenden Autos. Er scheint den Gesetzen der Schwerkraft nicht unterworfen zu sein. Von seiner neuen Warte auf einem silbernen Mercedes aus blickt er erneut die
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