Breed: Roman (German Edition)
Hakennase, olivgrünen Augen und einer freundlichen, aber distanzierten Art, von der sich die Kinder angezogen fühlen. Heute versucht er, nicht zu nah bei einem der Schüler zu stehen, weil er wahrnimmt, dass seine Haut nach Rum stinkt. Er hat Probleme, Alkohol zu verstoffwechseln, und gestern war er mit seinem festen Freund Xavier bis spät in die Nacht hinein in einem Club, der frequentiert wird von Exilkubanern, deren Vorstellung von Frohsinn und persönlicher Freiheit keine Grenzen zu haben scheint. (Michaels Vorstellung von persönlicher Freiheit besteht darin, wählen zu können, was er lesen will, ohne Referate bewerten oder den Unterricht vorbereiten zu müssen.)
Die vierzehn Schüler, die heute da sind, sitzen an einem großen, ovalen Tisch, während Medoff an der vorderen Wand des Klassenzimmers auf und ab schreitet. Dabei liest er aus dem Alten Testament vor.
»Also, hier haben wir Gott in einer besonders rachedurstigen Gemütsverfassung«, sagt er. »Das ist aus …« Er blickt auf die Bibel in seinen Händen. »Jeremia.«
»Jeremiah was a bullfrog«
, trällert Ry Finnegan, dessen Vater etwa zehn Prozent der Platten produziert hat, die vom
Rolling Stone
zu den größten Rockalben aller Zeiten gezählt werden.
»Der Jeremia des Alten Testaments war das genaue Gegenteil eines Bullfrog, Ry«, sagt Medoff. Da er der Versuchung nicht widerstehen kann, dem Jungen unter die Nase zu reiben, dass er nicht nur die Anspielung versteht, sondern auch den Text des Songs kennt, fügt er hinzu: »Er hat sich überhaupt nicht darum geschert, allen Fischen Freude zu bringen und dir und mir ein tolles Leben zu bescheren. Hör zu.« Er blickt wieder in die Bibel und liest: »›Ich will diese Stadt wüst machen und zum Spott.‹ Und falls ihr euch da noch nicht fragt, ob Gott Probleme mit seiner Aggressionsbewältigung hat, wird euch vielleicht das hier überzeugen: ›Ich will sie lassen ihrer Söhne und Töchter Fleisch fressen, und einer soll des andern Fleisch fressen in der Not und Angst.‹«
Medoff blickt lächelnd auf. Er liebt diese Kinder, ihre Lebhaftigkeit, ihr frisches Verhältnis zur Welt, und er kann es kaum erwarten, ihnen neue Ideen vorzusetzen. Doch als er den Blick vom Buch hebt, sieht er als Erstes zufällig Adam Twisden-Kramer, dessen Gesicht plötzlich blutleer geworden ist. Wäre Adam ein alter oder auch nur älterer Mann, dann würde Medoff meinen, er hätte einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall. Sein Atem geht flach, auf seiner Stirn und seinen Nasenflügeln stehen Schweißperlen.
»Adam?«, stößt der Lehrer hervor, während der Junge von seinem Stuhl rutscht und ohnmächtig auf dem Boden liegen bleibt.
Den ganzen Tag lang hat der Schlüssel in Adams Tasche wie ein Stück Kohle gebrannt. Nun ist es Nacht, bald zehn Uhr, und er und Alice sind seit halb sieben in ihren Zimmern eingesperrt. Er schreibt ihr eine SMS :
Wir hauen ab.
Zu früh
, tippt sie zurück.
Kann nicht mehr warten.
Er schlüpft aus seinem Pyjama und in die Schuluniform, die er tagsüber getragen hat. Als er den Schlüssel aus der Tasche nimmt, passt dieser zuerst nicht in das Schloss, mit dem das Schutzgitter verriegelt ist. Das Ding scheint nicht einmal etwas mit dem Schloss zu tun zu haben. Doch obwohl ihm das Herz in die Hose rutscht, fummelt Adam weiter mit dem Schlüssel herum, und es dauert nicht lange, dann kann er ihn tatsächlich in den unsichtbaren Kanal im Schließzylinder stecken. Er bewegt ihn hin und her, und obwohl der Schlüssel sich nicht richtig dreht, entsteht genügend Spiel, und Adam hofft, dass es mit ein wenig Geduld klappen kann.
Das Babyphon liegt auf dem Bett. Adam hat die Lautstärke ganz aufgedreht, um hören zu können, falls seine Eltern ihr Zimmer verlassen und nachschauen, was die Zwillinge treiben. Das Gerät gibt ein ständiges Rauschen von sich, das sich anhört wie eine Katze, die nicht aufhören kann zu fauchen.
Weit unten und nicht durch das Gerät übertragen hört man das Jaulen eines Hundes. Adam ist nicht sicher, ob das Geräusch von draußen, aus einem Nachbarhaus oder aus dem Keller seines eigenen Hauses kommt, von jenem feuchten, grässlichen Ort, in den er nie den Fuß setzen wird, egal, was auch geschehen mag – da würde er lieber sterben.
Im Empfänger hört er die Stimmen seiner Mutter und seines Vaters.
Bin so schläfrig
, sagt seine Mutter.
Das hat phantastisch geschmeckt.
Da bekommt der Ausdruck »guter Hund« eine ganz neue Bedeutung.
Lass das. Ich
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