Breed: Roman (German Edition)
du, du schaffst das, du kannst es.
Er packt die Messinggriffe, stößt die Luft aus wie ein echter Mann, und zu seiner großen Überraschung öffnet das Fenster sich mit einem langen Knistern und Knacken.
Es bleibt keine Zeit, stolz oder glücklich zu sein. Adam steigt aus dem Fenster und bleibt auf dem windgepeitschten Absatz der Feuerleiter stehen, um sich zu beruhigen. Er darf nicht auf den gefrorenen, öden Fleck des Gartens drei Stockwerke unter sich hinabschauen, sonst stürzt er gewiss ab. Einen Moment lang wartet er, bis sein Herzschlag sich verlangsamt hat und sein Atem ruhiger geht.
Ich werde es schaffen
, sagt er sich.
Eine Art eiserner Steg verbindet den Teil der Feuerleiter, auf dem er steht, mit dem Absatz unter dem Fenster von Alice. Er blickt hinüber und sieht sie nervös durch die Stahlrauten ihres Gitters spähen. Der Schlüssel, der sein Gitter geöffnet hat, wird auch an ihrem funktionieren, da ist er sich ziemlich sicher. Es muss einfach so sein. Es muss …
Und wenn ihr Fenster ebenfalls mit Lack zugekleistert ist? Dann wird er es öffnen. Er hat eine Kraft in sich entdeckt, die größer ist, als er gedacht oder sich vorgestellt hätte. Er hat sich seinen Überlebenswillen zunutze gemacht.
Die Feuerleiter ist schlüpfrig. Sie vibriert im Wind. Wenn er sich bewegt, scheint sie zu schwanken, als wollte sie sich aus den Ziegeln des Hauses lösen. Die rostigen Bolzen, mit denen sie befestigt ist, knirschen und quietschen.
Langsam tut Adam einen Schritt auf seine Schwester zu und dann noch einen. Unter seinen Füßen ächzt das Metall, aber so bange ihm auch ist, er macht nicht kehrt.
Er blickt in die Nacht hinaus, die ihm so wenig vertraut ist wie die Landschaft eines fernen Planeten. Bisher hat er sie nur auf Bildern und durch sein Fenster hindurch gesehen, aber jetzt kommt es ihm vor, als wäre sie lebendiger, als er es sich je vorgestellt hat. Er hört das Dröhnen des Verkehrs, und er hört auf der Straße zwei Menschen lachen, unsichtbar, aber dennoch ganz lebendig, als stünden sie direkt neben ihm. Ein Flugzeug schiebt seine Lichter über den tiefschwarzen Himmel. Das Geräusch ferner Musik, das Pulsieren einer Bassgitarre. Die Welt!
Er hört es klopfen. Knöchel auf Glas. Entsetzt dreht er sich nach seinem Zimmer um, weil er erwartet, das wütende Gesicht seines Vaters zu sehen und eine zornige Geste, die ihn zurückwinkt. Aber alles, was er sieht, ist die Dunkelheit seines alten Zimmers. Es klopft erneut. Das ist Alice. Sie hat Angst. Er soll sich beeilen. Jetzt ist sie dran, befreit zu werden.
In dem Gebäude direkt westlich des Hauses Twisden, einem ähnlich gebauten Stadthaus, das schon lange in teure, als »behaglich« bezeichnete Wohnungen umgewandelt worden ist, lebt eine sehr voluminöse, müde und mutlose Frau namens Dorothy Willis von der schwindenden Erbschaft, die ihre Eltern ihr hinterlassen haben. Lange schon arbeitet sie an einem Buch über Francis, das sprechende Maultier, einen tierischen Filmstar der fünfziger Jahre. Sie hat gemeint, so ein Buch wäre leicht und amüsant zu schreiben, aber wie alles andere in ihrem Leben ist es im Lauf der Zeit immer trauriger und schwieriger geworden, bis sie praktisch nicht mehr in der Lage war, eine Seite, einen Absatz oder auch nur einen Satz aus sich herauszupressen. Dennoch sitzt sie weiterhin bis tief in die Nacht hinein an ihrem Schreibtisch, spielt am Computer Solitär, isst, versucht, nicht zu essen, und beobachtet die Gärten und die erleuchteten Fenster ihrer Nachbarn.
Großteils sind an den Fenstern der Häuser, die sie im Blick hat, die Vorhänge zugezogen, sodass Dorothy die Geschichten dahinter aus Schatten und Silhouetten zusammensetzen muss. Es ist ein wenig so, wie zu erraten, was Menschen in einer Sprache sagen, die man nicht kennt. Ist diese Gestalt eines Mannes, die sich hebt und senkt, jemand, der Klimmzüge macht, oder wird da gerade ein widerwärtig energischer Geschlechtsakt vollzogen? Ist diese Frau, die ihre Arme um eine männliche Silhouette geschlungen hat, damit beschäftigt, diesen Mann zu trösten oder zu verführen – oder handelt es sich, da beide sich seit zwanzig Minuten nicht bewegt haben, doch nicht um menschliche Gestalten? Dorothy weiß, es ist unhöflich und ein klein wenig absonderlich, seinen Nachbarn hinterherzuspionieren, aber die Leute in den Gebäuden nebenan sind ja keine richtigen Nachbarn. Sie kennt weder ihre Namen noch weiß sie irgendetwas anderes über sie, wodurch all
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