Breed: Roman (German Edition)
sich verstecken, wieder losrennen, noch schneller.
Die Träger ihres Rucksacks umklammernd, hetzt Alice die Lexington Avenue entlang, unsicher, ob ihre Mutter sie immer noch verfolgt. Sie hat Angst, sich umzublicken, um sich zu vergewissern.
Alles ist schrecklich schiefgelaufen – sie und Adam hatten noch nicht einmal die Hälfte der Feuerleiter hinter sich, als plötzlich die Lichter im Haus angegangen sind, ein Rechteck nach dem andern wie das Computermodell eines zu Bewusstsein kommenden Gehirns. Und dann: Rufe, Drohungen. Adam rennt nach Süden, sie rennt nach Norden, während sie sich zubrüllen:
Ruf mich an!
Sie staunt, wie gut es sich anfühlt zu rennen, und wie leicht es ist. Sie hat Muskeln, von denen sie noch gar nichts wusste. Sie ist im Besitz einer Anmut, die ihr immer schon zu eigen war. Durch den Morast aus Furcht und Ungewissheit stößt plötzlich eine reine, tierhafte Freude. Vor dieser Nacht hat sie keine Ahnung gehabt, wozu ihr Körper fähig ist …
Michael wartet am Aufzug auf Adam, und als die Tür aufgeht, kommt der Junge heraus. Er trägt nur eine leichte Jacke, obwohl es doch ein kalter, feuchter Novemberabend ist. Die Jacke ist nass und mit Dreck beschmiert; sie sieht so aus, als wäre er mit ihr hingefallen. Besonders merkwürdig sieht die Jacke aber aus, weil der Junge sie in seine Jeans gesteckt hat, wodurch Adam regelrecht psychisch gestört wirkt. Auch seine Sneakers sind durchnässt, Blätter kleben an ihren Sohlen. Auf seinen bleichen Wangen hat er Kratzer und in seinem Haar winzige Zweige.
»Hallo, Mr. Medoff«, sagt er. »Vielen Dank, dass ich heraufkommen darf.«
Hinter ihm schließt sich die Aufzugtür, und der Junge steht im Flur, dem Zugang zu zehn Apartments auf dieser Etage, deren Türen mit einer Ausnahme fest geschlossen sind.
»Adam? Was tust du hier?«
Der Junge öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch heraus kommt nur ein tiefes Schweigen. Seine Augen hellen sich auf, während sie sich mit Tränen füllen.
»Adam?«, sagt Michael. Seine Befürchtungen über diesen unerwarteten Besuch werden plötzlich von größeren Sorgen in den Schatten gestellt. Der Junge scheint zu schwanken, und Michael streckt die Hand nach ihm aus, um ihn zu stützen. Als die Hand seines Lehrers ihn berührt, spürt Adam, wie seine Knie nachgeben, und Michael gelingt es nur wegen seiner raschen Reflexe, ihn aufzufangen, bevor er zu Boden sinkt.
Halb zieht, halb trägt Michael den Jungen in die Wohnung. »Um Gottes willen«, sagt Xavier, lässt das Geschirrtuch fallen und eilt herbei, um zu helfen. Er schließt hinter den beiden die Tür, dann ergreift er Adam an den Beinen und hilft, ihn zum Sofa zu tragen. »Was ist passiert?«, fragt er.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortet Michael mit schwankender Stimme. Er hockt sich neben das Sofa und rüttelt Adam sanft an der Schulter. Langsam gehen die Augen des Jungen auf. Sie haben eine ungewöhnliche Braunfärbung – eigentlich sind sie eher hellbraun, und ihr Weiß ist dunkelbeige. Sie richten sich auf Michael mit einem starren Blick, der durch seine Neutralität verblüfft. Diese Augen sind weder freundlich noch unfreundlich, weder verängstigt noch vertrauensvoll; alles, was sie tun, ist
sehen
.
Der Junge versucht, sich auf die Ellbogen zu stützen, doch er ist zu erschöpft, und nachdem er es halb geschafft hat, gibt er auf und sinkt wieder flach aufs Sofa. Er greift hinter sich, löst die Gurte des Rucksacks und lässt diesen auf den Boden fallen. »Ich hab nicht gewusst, wo ich sonst hinsoll«, sagt Adam, der nun an die Decke starrt.
»Du musst mir sagen, was los ist.« Michael hebt den Kopf und sieht, dass Xavier sich in die Küche zurückgezogen hat. Der Tarnmantel ihrer Privatsphäre löst sich bereits auf, Faden für Faden.
»Das weiß ich nicht«, sagt Adam. »Ich bin nicht sicher.« Wieder versucht er, sich auf die Ellbogen zu stützen. Diesmal hat er mehr Erfolg und schafft es, die Beine vom Sofa zu schwingen und sich aufrecht hinzusetzen. Er reibt sich mit den Händen übers Gesicht, als würde er es mit Seife waschen.
»Wo hast du denn die Kratzer her? Willst du nicht ins Krankenhaus? Außerdem muss ich jetzt sofort deine Eltern anrufen.«
»Das geht nicht«, sagt Adam.
»Adam, das hier ist meine Wohnung. Das ist kein Versteck für Leute, die irgendwelchen Krach mit ihren Eltern haben. Verstanden?«
Adam nickt. Die chaotischen Gerüche der Nacht – Wind, Regen, Ruß, der nach verschmorten Transistoren riechende
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