Breed: Roman (German Edition)
Straße auf und ab, auf der Suche nach einem Anzeichen für seine Kinder.
Michael Medoff sitzt am Küchentisch, der in die Wand eingebaut ist, um in seinem fünfundvierzig Quadratmeter großen Apartment im achten Stock eines alten Wohnblocks in der Twenty-First Street, nahe der Second Avenue, Platz zu sparen. Selbst wenn er allein dort leben würde, wäre das Apartment klein, doch er teilt die zweieinhalb Zimmer mit Xavier Sardina. Breitschultrig und nicht besonders gewandt, wie die beiden sind, versuchen sie ständig, sich nicht auf die Füße zu treten wie Tänzer, die sich der Choreographie unsicher sind.
An diesem Abend räumt Xavier die Reste des Abendessens ab, während Michael seine Hausaufgaben auf dem Tisch ausbreitet.
»Das ist eklig«, sagt Xavier über seine Schulter, während er das gebrauchte Geschirr in den Spülkorb im Becken lädt.
»Was denn?«
»Du leckst dir die Fingerspitzen ab, um Brotkrümel vom Tisch zu picken und sie dann zu essen.«
»Ich bin eben noch hungrig.«
»Du hast ja auch nicht aufgegessen.«
»Keine Zeit. Ich muss siebzehn Aufsätze über
Oliver Twist
benoten, und ich habe nur …« Michael blickt auf seine Armbanduhr, ein Erbstück von seinem Großvater mit ockerfarbenem Zifferblatt. »Zwei Stunden, bevor du mich zwingst, mit dir Tanzen zu gehen.«
Xavier senkt das Kinn und zieht die Augenbrauen hoch, lässt sich jedoch nicht provozieren, weil er weiß, dass er sonst in die Falle läuft. Xavier und Michael gehen jeden Dienstagabend in einen Tanzclub namens Third Degree am West Side Highway zwischen Bank und Bethune Street, und jeden Dienstagabend spürt Xavier, dass Michael das nur widerstrebend tut. Michaels Vorstellung eines tollen Abends besteht darin, gemeinsam auf dem Sofa zu sitzen und auf ihrem riesigen Flachbildfernseher Tennis zu schauen, eine Schale kalorienarmes Popcorn zwischen den beiden. Xavier hingegen genießt das schwule Nachtleben von New York, je später, je lauter, je aufgedrehter und je chaotischer, desto besser.
Obwohl Xavier Havanna und dessen homophobe Dämlichkeiten schon vor über zehn Jahren hinter sich gelassen hat und seither in New York lebt, zelebriert er seine Freiheiten weiterhin mit einer fast verzweifelten Intensität, als könnte das Recht, in der Öffentlichkeit mit einem Mann zu tanzen, mit einem Mann zusammenzuleben, ihn auf der Straße an der Hand zu halten, im Restaurant ein Dinner bei Kerzenschein mit ihm zu genießen, samt tausend anderen sexuellen Freiheiten jeden Augenblick widerrufen werden. Im Allgemeinen entscheidet sich Michael, Xaviers unersättlichem Appetit nachzugeben. Sie sind zwar schon fast fünf Jahre zusammen, doch Michael hat noch immer das Gefühl, Xaviers Gastgeber in Amerika zu sein, so als wäre dieser gerade mit dem Taxi vom Flughafen gekommen, um einen so großen Bissen vom Big Apple zu verschlingen, wie es menschenmöglich ist. Wenn Xavier ein oder zwei Tage gelangweilt oder einsam ist, fühlt Michael sich schuldig und meint, er würde nicht nur seinen ausländischen Besucher enttäuschen, sondern irgendwie die Vereinigten Staaten selbst in ein ungünstiges Licht tauchen. Xavier erschöpft ihn – ihre gemeinsamen Abende verbringen sie nur selten zu Hause; sie hetzen von Discos zu Vernissagen zu Weinproben zu Dinnerpartys zu Gedichtlesungen zu Buchladen-Events zu Theaterlofts und Jazzclubs –, aber Michael erkennt, dass er ohne Xavier womöglich in den Standardzustand seiner eigenen Persönlichkeit verfallen würde: ein mürrischer Eigenbrötler, der die Wohnung nur für den Weg zur Arbeit verlässt und sonst kaum etwas unternimmt.
»Du arbeitest so hart für deine Schüler, Michael«, sagt Xavier. Er wartet, bis das Wasser im Boiler sich erhitzt hat, bevor er das Geschirr mit dem Sprüher abspült. Dass massenhaft heißes Wasser verfügbar ist, ruft in Xavier ein Delirium hervor, das ihn fast so begeistert wie die Genüsse der sexuellen Freiheit.
»Tja, Xavy, so ist das eben, wenn man seine Aufgabe erfüllt«, sagt Michael.
»Für reiche Kinder, oder? Wieso gehst du nicht an die öffentliche Schule auf der anderen Straßenseite, um Kinder zu unterrichten, die arm sind und dich brauchen?«
»Im Grunde ist jedes Kind arm«, sagt Michael. »Jedes Kind ist machtlos. Und jedes Kind ist seinen Eltern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wenn man es nicht liebt und umsorgt, dann ist es geliefert. Jedenfalls mag ich meinen Job, und ich vergesse nie, dass ich schon deshalb unter Beobachtung stehe, weil
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