Breed: Roman (German Edition)
dir hilft.«
»Mir kann man nicht helfen, Cynthia. Ich kann mich nicht mal selber umbringen. Das musst du tun. Ich flehe dich an. Bitte!«
»Leslie …«
»Tu’s einfach. Du hast das Messer, also stich zu. Stich zu! Verflucht noch mal, stich zu, du dämliche Kuh!«
Inzwischen hat Leslie sich von ihrem Stuhl erhoben. Getragen von ihrer eigenen Wut, scheint sie fast in der Luft zu schweben. In ihren Augen ist keinerlei Weiß mehr zu erkennen. An ihrem Hals treten dick die Venen hervor, steif und gerade wie Essstäbchen, und ihr Gesicht ist purpurrot. Cynthia, die um ihr Leben fürchtet, umklammert das Messer fester und richtet die Spitze auf ihre Schwester, damit diese ihr nicht noch näher kommt, während Leslie einen nicht enden wollenden und fast völlig unverständlichen Schwall obszöner Beleidigungen von sich gibt und dabei alles an Cynthia in den Dreck zieht – ihr Aussehen, ihre Fruchtbarkeit, ihre Ehrlichkeit, ihren Geruch.
Doch nachdem sie diesen Schmutzkübel ausgeleert hat und merkt, dass nichts, was sie sagt, Cynthia dazu bringen wird, das Messer zu verwenden, sinkt Leslie auf ihren Stuhl zurück und schließt die Augen. In dem jähen Schweigen hören beide Frauen das ferne, gedämpfte Heulen aus dem Keller.
»Los«, sagt Leslie, »komm mit. Ich zeige dir, wie schlimm es geworden ist.«
Davis Fleming schreitet in seinem Büro auf und ab und probt lautlos die Ansprache, die er in der folgenden Woche beim Dinner der Ehemaligen halten wird. Dieses findet doch tatsächlich
downtown
statt, in einem neueröffneten italienischen Restaurant namens Trattoria Gigi. Fleming kommt das als krawallige, verantwortungslose Missachtung der schulischen Tradition vor. Normalerweise wird dieses Dinner in einem ehrwürdigen Lokal namens Wittenborg’s an der Upper East Side veranstaltet, doch selbst die hartnäckigsten Traditionalisten haben bemerkt (und beklagen sich diskret), dass das Essen bei Wittenborg’s ziemlich langweilig geworden ist. Manche bezeichnen es sogar als ungenießbar. Das italienische Restaurant downtown hat enthusiastische Besprechungen bekommen und serviert genau jene modischen Delikatessen, nach denen die jüngeren Ehemaligen zu lechzen scheinen. Das Thunfischcarpaccio beispielsweise ist hoch gelobt worden, und ein Restaurantkritiker hat angemerkt, niemand in der ganzen Stadt könne Topinambur genauso aufschäumen wie der Chefkoch der Trattoria Gigi. Fleming ist das völlig schnuppe. Seine einzige Sorge ist, die schulische Stiftung wieder ein wenig aufzupäppeln, da diese schwer unter den Auswirkungen grässlicher Fluktuationen am Aktienmarkt gelitten hat. Wenn die jüngeren Ehemaligen also nach Topinamburschaum lechzen, dann sollen sie den bekommen. Diese neureichen jungen Schnösel haben einen merkwürdigen Geschmack, was die Erziehung ihrer Kinder, ihre Kleidung und das Essen angeht. Und du lieber Gott, das Essen ist ihnen wirklich wichtig. Fleming kommt es ausgesprochen komisch vor, dass manche Leute so viel Wert darauf legen, was sie essen … Er selbst hält sich an das Wesentliche, genau wie sein Vater und sein Großvater es getan haben. Wenn man ihm ein Stück Fleisch, eine halbe Kartoffel, grünen Salat und ein Glas Eiswasser gibt, ist er zufrieden. Vielleicht noch eine Kugel Erdbeereis, eine Tasse Kaffee – wobei es ihm wirklich nicht darauf ankommt, dass die verwendeten Kaffeebohnen biologisch und im Schatten angebaut worden sind!
Die Vorstellung von Erdbeereis und Kaffee versetzt Davis in eine träumerische Stimmung, und nun steht er in seinem Büro, einen dreizeilig formatierten Ausdruck seiner Ansprache in der Hand, und blickt aus dem Fenster. Er sieht den vertrauten Anblick des schmiedeeisernen Zauns, der die Schule umgibt, und den Gehweg, die Fußgänger, die Straße und die Autos jenseits davon, ohne dies alles wirklich zu sehen. Dann jedoch weckt ihn etwas aus seinem verträumten, leicht schläfrigen Zustand: Er sieht Michael Medoff langsam auf die Schule zukommen. Sein Gesicht ist ernst und unrasiert, seine behandschuhte Hand hält einen Pappbecher mit Kaffee.
»O nein«, sagt Fleming. Wie ist das nur möglich? Er hat gedacht, er hätte mit diesem Idioten eine Abmachung getroffen.
Er wirft seine vorbereitete Rede auf den Schreibtisch und stürmt aus seinem Büro auf den menschenleeren Flur. Während er auf den Vordereingang zuläuft, zieht er sich seinen Mantel über.
»Mr. Medoff!«, ruft er, sobald er draußen ist. Flemings Stimme ist voller Jovialität, doch sein
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