Breed: Roman (German Edition)
Lächeln hat die Wärme einer Metallsäge. Medoff lungert neben dem Eingang herum, ohne die Absicht erkennen zu lassen, dass er das Gebäude tatsächlich betreten will, was seine Anwesenheit in der Nähe der Schule irgendwie noch schlimmer macht.
»Was tun Sie hier, mein Freund?«, fragt Fleming und verlangsamt seine Schritte, während er sich dem jungen Lehrer nähert.
»Was ich tue?«, fragt Michael. Er blickt sich um, als würde er erst jetzt wahrnehmen, wo er sich befindet. Sein Haar ist zerzaust; im Weiß seiner Augen sieht man kleine rote Blitze. »Ich … gehe bloß spazieren.«
Fleming blickt in den feuchten, grauen Himmel, der sich über den beiden ausbreitet wie eine eiskalte Platte. »Tatsächlich? Um sich die Beine zu vertreten?«
Michael nickt.
»Ich dachte, wir hätten eine Abmachung«, sagt Fleming. Er klopft Michael ein paarmal kräftig auf die Schulter. »Ich dachte, Sie hätten begriffen, was hier auf dem Spiel steht.«
»Ich habe nichts Falsches getan, Davis, und das wissen Sie auch. Die Twisdens stellen mich als Problem hin, wo das Problem doch eindeutig sie selbst sind. Haben Sie schon beim Jugendamt angerufen?«
»Es ist einfach so, Mike …«
»Bitte nennen Sie mich nicht Mike. Okay?«
»Es ist einfach so,
Michael
– in einer Schule, besonders in einer Eliteanstalt, gilt: Wo Rauch ist, da ist auch Feuer.«
»Ist Ihnen das etwa jetzt gerade eingefallen?«
»Sie wissen, wovon ich spreche. Die Twisdens werden Ihnen diese Sache in die Schuhe schieben.«
»Genau, Sie sprechen davon, dass ich ein H-o-m-o bin.«
»Ich spreche von der Anschuldigung eines Fehlverhaltens.«
»Ich wiederhole: H-o-m-o.«
»Und ich werde jetzt nicht mit Ihnen über Political Correctness diskutieren, Michael. Wir sind doch beide Profis. Wir begreifen, was dazu gehört, diese Institution als Ort des Lernens zu beschützen.«
»Der Junge hat furchtbare Angst. Haben Sie sich eigentlich mal gefragt, weshalb?«
»Was in Familien vor sich geht, ist für Außenstehende oft schwierig zu verstehen. Aber eines versteht jeder – er war in Ihrer Wohnung. Haben Sie irgendeine Ahnung, welche Probleme das verursachen könnte – nicht nur für Sie, sondern für die gesamte Schule? Es sind nur noch wenige Tage bis zu einem wichtigen Spendenevent. Da können wir diesen Scheiß nicht brauchen, okay? Verstehen Sie? Wir brauchen diesen Scheiß nicht. Spreche ich jetzt Ihre Sprache?«
»Ob Sie meine Sprache sprechen? Weil Sie
Scheiß
gesagt haben? Sagen Sie mal, was ist eigentlich mit Ihnen los, Davis?«
»Diesen Kindern ist überhaupt nichts anzumerken. Sie bringen gute Leistungen. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sie irgendwelchen Kummer hätten. Glauben Sie mir, ich beschäftige mich schon sehr, sehr lange mit Kindern. Was hat der Junge Ihnen erzählt, um Sie dazu zu bringen, derart auf den Putz zu hauen? Hat er gesagt, er wird geschlagen?«
»Nein, das hat er nicht.«
»Sexuell missbraucht?«
»Nein.«
»Was anderes?«
»Ja.«
»Was, Mr. Medoff? Was?«
»Er hat gesagt, seine Eltern werden …« Michael stößt einen langen Seufzer aus. »Er meint, das heißt, beide Kinder meinen, ihre Eltern werden sie auffressen.«
»Tatsächlich.«
»Ja.«
»Und Sie haben ihm geglaubt. Sie sind bereit, den Ruf und womöglich gar die finanzielle Gesundheit dieser Institution aufs Spiel zu setzen, weil ein zehnjähriger Junge mitten in der Nacht in Ihre Wohnung gekommen ist und Ihnen erzählt hat, seine Eltern würden ihn auffressen, njam njam njam.«
Bevor Michael etwas erwidern kann, rennt der kleine Adam Twisden-Kramer auf ihn zu und schlingt die Arme um die Taille seines Lehrers.
Erschöpft und angespannt, wie er ist, verliert Michael durch den Aufprall fast das Gleichgewicht, doch als er nach unten blickt und sieht, wie der Junge das Gesicht in die Wolle seines Mantels presst, mit feuchtem Haar und zugekniffenen Augen, kann er nichts anderes tun, als das Kind liebevoll zu tätscheln und zu hoffen, ihm mit dieser Berührung ein klein wenig Trost zu spenden.
»Hey, was ist denn los?«, fragt Michael. Ein Stück weit entfernt sieht er Alice stehen, die die Szene mit bleichem, angstvollem Gesicht betrachtet. Er sieht sie fragend an, während Adam ihn weiterhin umklammert.
»Sehen Sie?«, sagt Fleming mit weit aufgerissenen Augen. Er schüttelt mehrmals den Kopf, als hätte er soeben einen unwiderlegbaren Beweis für ein Verbrechen entdeckt. »Das ist keine normale Lehrer-Schüler-Beziehung.«
Adam scheint nicht zu
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