Breed: Roman (German Edition)
ist.
Leslie steht drohend über ihr, die Augen gelb vor Zorn.
Michael erträgt es nicht mehr, einsam und angespannt in seiner Wohnung zu hocken und darauf zu warten, dass
irgendjemand
ihm
irgendetwas
mitteilt. Er hat in jedem Krankenhaus der Stadt angerufen. Außerdem hat er einige seiner Freunde angerufen, von denen anscheinend keiner kapiert, wie ernst die Lage ist. Die Frage »Du hast auch nichts von Xavier gehört, oder?« ist von allen als Folge eines schlimmen Beziehungsstreits interpretiert worden und nicht als Ausdruck des Notfalls, der Michael bewusst ist. Ebenso unerträglich ist ihm inzwischen der gelangweilte, bürokratische Tonfall des Polizisten, der seine Anrufe auf dem Revier annimmt und ihm sagt, er solle »geduldig abwarten«, als wäre Michaels Nervosität ein wenig ärgerlich und würde eventuell sogar die Suche nach Xavier behindern – eine Suche, die gar nicht stattfindet, da ist Michael sich sicher. Unerträglich sind schließlich die stündlichen Anrufe von Rosalie, die nun, da so viel Zeit vergangen ist, noch mehr als er fürchtet, eine Katastrophe sei geschehen.
Also wandert er durch die Straßen seiner Stadt. Wo soll er suchen? Es gibt keinen logischen Ort. Er schaut bei dem griechischen Café vorbei, das sie beide mögen, und bei ein paar ähnlichen Lokalen, die sie aufsuchen, wenn es an ihrem Lieblingsort zu voll ist. Er wirft sogar einen Blick in das Café, in dem sie nicht mehr gewesen sind, seit Xavier im Eigelb seines Spiegeleis eine Wimper entdeckt hat. Nichts. Michael sucht in Geschäften – in Schuh-und Zeitschriftenläden –, und er forscht in den Gesichtern von Passanten, als könnte einer von denen durch seinen Blick verraten, dass er etwas über Xaviers Verbleib weiß.
Er geht auf der Lexington Avenue nach Norden und folgt dabei der Strecke der U-Bahn, die unter ihm dahinrumpelt. Erst geht er rasch, dann langsam, dann wieder rasch; eine halbe Stunde vergeht, eine Stunde. Er zieht sein Handy aus der Jacke und sieht, dass es sich in Wirklichkeit um Xaviers Telefon handelt. Er klappt es auf, um nachzuschauen, ob jemand angerufen hat. Nichts, null, niemand … Er ruft den Festnetzanschluss seiner Wohnung an. Nichts … Er ruft sein eigenes Handy an und lauscht dessen Läuten, aber nein, das ist unerträglich. Die Vorstellung, dieses Telefon könnte in Xaviers Tasche läuten, während dieser irgendwo daliegt – wie? Tot? Im Bett von jemand anders? So benommen von einem Schlag an den Kopf, dass er nicht mehr weiß, wie er heißt? Unerträglich … Michael bleibt stehen und versucht, wieder Atem zu schöpfen.
Er zwingt sich, sich zu beruhigen. Nichts könnte kontraproduktiver sein, als die Hoffnung zu verlieren. Als ihm endlich ein tiefer, normaler Atemzug gelingt, wird ihm bewusst, dass er bis zur Schule gegangen ist, deren schizophrene Architektur – zur Hälfte 1894 und zur anderen Hälfte 2007 erbaut – sich schroff vor dem stählernen Himmel erhebt.
Alex geht durch die Straßen von New York und sucht nach irgendwelchen Hinweisen auf seine Kinder. Sein Blick schweift von links nach rechts über die überfüllten Gehwege. Er sieht alles und jeden. Sein Jackett ist aufgeknöpft. Er atmet tief die frische Luft ein, und wenn er ausatmet, strömen lange Dampfwolken aus seinen Nasenlöchern.
Er denkt an Xavier, den er bereits gekostet hat und der im Käfig nun in seinem eigenen Saft schmort. Dabei durchfährt ihn ein entzücktes Schaudern, und er spürt ein angenehmes Kribbeln in der Magengrube. Das erinnert ihn daran, wie er sich als ganz junger Mann gefühlt hat, wenn er sich vorgestellt hat, Sex zu haben. Schon davon zu träumen, hat ihm einen genüsslichen Fandango durch den Leib gejagt, so real wie der Klang einer Stimmgabel, schon der Gedanke daran, die Phantasie, die Möglichkeit … Er bleibt stehen. Eine Erinnerung! Wann hat er das letzte Mal eine echte Erinnerung gehabt? Wann hat sein Geist sich durch den Schutt der Vergangenheit gewühlt und etwas gefunden, was er ergreifen konnte? Erinnerungen sind es, die uns menschlich machen … und er hat gerade eine.
Doch so rasch und unerwartet die Erinnerung aufgetaucht ist, so verschwindet sie auch wieder und lässt ihn leer und verwirrt zurück. Als er aufblickt, steht er an der Ecke Fifty-Seventh und Fifth, umgeben von Angestellten, Leuten beim Einkaufsbummel und dem blinden Bleistiftverkäufer mit seinem lecker aussehenden Hund.
Wo bin ich?
, denkt er. Er wischt sich mit dem Ärmel die Nase ab. Blickt sich
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