Brenda Joyce
mehr zu fassen. Sie hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand einen
heftigen Schlag in die Magengrube versetzt.
»Francesca?«
»Ja?« Sie lächelte und reichte
ihm den Umschlag, wobei ihre Hand plötzlich zu zittern begann.
»Was ist
denn los?«, fragte er mit scharfer Stimme.
»Nichts«, erwiderte sie und
lächelte, doch es fühlte sich an, als sei das Lächeln auf ihrem Gesicht
festgefroren. Ihre Gedanken überschlugen sich. Es spielte doch gar keine
Rolle, ob er eine Nachricht von seiner Frau erhielt. Leigh Anne schrieb ihm
regelmäßig, das hatte er ihr selbst erzählt. Und vielleicht enthielt der Umschlag ja ohnehin nur Rechnungen.
Oder die Bitte um mehr Geld. Er hatte gewiss überhaupt keine Bedeutung!
Die beiden verachteten einander
und hatten sich bereits seit vier Jahren nicht mehr gesehen.
»Kommen
Sie, ich werde Ihnen eine Droschke heranwinken.« Bragg ergriff ihren Arm, und
sie verließen gemeinsam das Haus. »Geht es Ihnen auch wirklich gut?«
»Aber ja, mir fehlt nichts«,
log sie, obwohl sie in diesem Moment eine schreckliche Vorahnung überkam, die
ihr Übelkeit verursachte.
Sie wusste plötzlich, dass
dieser Brief eine besondere Bedeutung hatte – und dass er nichts Gutes
verhieß.
Kapitel 6
FREITAG,
7. FEBRUAR 1902 – 19.30 UHR
Julia hatte sich wie üblich für das Abendessen umgezogen und
trat in den Salon, als Francesca gerade noch einmal kurz in ihr Zimmer
hinaufgehen wollte. An diesem Abend trug Julia ein Kleid aus hellbeigefarbener
Seide, das ganz schlicht gehalten war und dennoch unglaublich elegant wirkte.
Francesca lächelte, doch insgeheim dachte sie mit einem beklommenen Gefühl an
die Pistole, die sie in der Handtasche trug. Sie hatte nicht vor, die
Handtasche dem Mädchen zu überlassen, da sie befürchtete, dass sie ihr
hinfallen oder aufgehen und ihren Inhalt preisgeben könnte.
Julia
blickte ihre Tochter forschend an und sagte: »Du hast es ja gerade noch
rechtzeitig geschafft. Ich wage kaum zu fragen, wo du den ganzen Tag über
gesteckt hast.«
»Ich habe
Pläne geschmiedet für die Damengesellschaft zur Abschaffung der Mietshäuser«,
erwiderte Francesca. Diese Ausrede war ihr in diesem Augenblick erst
eingefallen. Sie hatte die Gesellschaft einen Monat zuvor gegründet, und
derzeit hatte sie erst zwei Mitglieder: sie selbst und Calder Hart.
Julias Gesicht nahm einen
weicheren Ausdruck an. »Ich habe gehört, dass Calder Hart dir eine sehr
großzügige Spende überreicht hat, Francesca.«
Francesca
mochte kaum glauben, dass ihre Mutter von dem Scheck
erfahren hatte, obwohl Julia in der Regel tatsächlich genau wusste, was in den
obersten Kreisen der Stadt vor sich ging. Doch dann fiel Francesca ein, dass
Connie dabei gewesen war, als Hart ihr diese großzügige Spende überreicht
hatte. »Hat Connie dir davon erzählt?«, fragte sie.
»Ja, das
hat sie«, erwiderte Julia lächelnd. »Weißt du eigentlich, dass Hart ein großer
Kunstmäzen ist? Er hat auch schon einigen städtischen Museen und wohl auch der
Stadtbibliothek größere Beträge gespendet. Außerdem hat er der Columbia University
im letzten Herbst für einen Studiengang der Schönen Künste ein Stipendium zur
Verfügung gestellt. Aber er gibt niemals etwas für Projekte, die einen
politischen Hintergrund haben. Er weigert sich auch standhaft, irgendeiner
Partei beizutreten oder einen politischen Kandidaten zu unterstützen. Außerdem
scheint er kein Befürworter von Reformen zu sein. Er ist schon oft um Spenden
für einen guten Zweck gebeten worden – ich selbst habe ihn wegen einer Spende
für das Lenox Hill Hospital angesprochen –, aber er hat stets abgelehnt.«
Francesca errötete. »Nun, er
scheint sich aber entschieden zu haben, meine Gesellschaft zu unterstützen.«
»Du scheinst es ihm wirklich
angetan zu haben, Francesca«, sagte Julia zufrieden.
»Ach,
Unsinn!«
»Er hat dir immerhin fünftausend
Dollar gegeben. Das ist eine gewaltige Summe.«
»Mama,
bitte! Alle Frauen haben es Hart angetan. Er steht nicht nur in dem Ruf, ein
Schürzenjäger zu sein, er ist es auch. Das ist doch wohl allgemein bekannt«,
sagte Francesca. Sie ließ sich auf das nächstbeste Sofa sinken, wobei sie ihre Handtasche mit der neuen Pistole darin an sich drückte.
Sie hätte ihrer Mutter am liebsten erzählt, dass Calder ein Auge auf Connie
geworfen hatte, aber das konnte sie natürlich nicht tun.
»Nun, ich
bin jedenfalls froh, dass du ihn getroffen und seine Aufmerksamkeit erregt
hast«, sagte Julia
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