Brenda Joyce
zuvor
hatte Joel kurz in den Ställen der Cahills gearbeitet, woraufhin prompt das
feine Silber ihrer Mutter verschwunden war. Sowohl Julia als auch Mrs Ryan, die
Haushälterin, waren überzeugt davon gewesen, dass Joel der Schuldige war. Er
hatte es allerdings bestritten.
»Ich hasse Pferde«, sagte er.
»Du hasst sie nicht, du hast Angst vor ihnen«, verbesserte ihn
Francesca mit sanfter Stimme.
Er seufzte. »Ich mag in keinem Stall
arbeiten, Miss.«
»Habe ich irgendetwas davon gesagt, dass du in einem Stall arbeiten
sollst? Ich möchte dich zu meinem Gehilfen machen.«
Die Bezahlung
war rasch ausgehandelt. »Ich werde dir zwei Dollar die Woche zahlen. Plus
Mahlzeiten.« Francesca lächelte, denn sie wusste, dass sie ihm damit einen
Vierteldollar mehr anbot, als ihm die Arbeit als Stallbursche eingebracht
hätte. »Drei Dollar, plus Mahlzeiten und 'n Bett, wenn ich's brauche.« Sie
blinzelte. »Drei Dollar die Woche? Du bist doch erst zehn Jahre alt!«
»Drei Dollar, plus Mahlzeiten und 'n Bett, und wir sind im
Geschäft, Miss«, wiederholte er.
»Na schön«, ergab sich Francesca seufzend.
Dann fuhr sie eifrig fort: »Wir haben auch schon unseren ersten Fall.« Sie
erzählte ihm rasch, was geschehen war, und zog dabei Georgettes Karte hervor.
»Was hältst du davon?«
Er verzog das Gesicht, als er nach der Karte der Frau griff. »Das
stinkt. Irgendwas ist faul an der Sache.« Er warf einen Blick auf die
Visitenkarte.
Francesca wäre es lieber gewesen, wenn er
ihre eigenen Befürchtungen nicht bestätigt hätte. »Joel, du kannst doch gar nicht
lesen.«
Er lächelte sie an. »Meine Ma hat versucht, es mir beizubringen,
und ein bisschen kann ich schon lesen.«
Francesca blickte ihn entgeistert an. »Aber du hast mir doch
gesagt, du könntest nicht lesen!«
»Na ja, wir kannten uns ja noch nich so gut und da waren überall
Polypen und ich hab mich um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert!«,
erwiderte der Junge.
Leicht verärgert nahm Francesca die Visitenkarte wieder an sich.
»Weißt du, Joel, ich bin ein sehr ehrlicher Mensch, und wenn du für mich
arbeitest, dann wirst du dein Faible dafür, die Wahrheit zu ... zu verdrehen,
ablegen müssen.« Er hatte sie unverfroren angelogen – und das nicht zum ersten
Mal!
Er schenkte ihr ein Lächeln, das seine sämtlichen Zahnlücken
freilegte. »Was meinen Sie mit Fabel?«
»Faible. Das bedeutet Vorliebe.« In diesem Augenblick hielt die
Droschke an, und Francescas Herz begann unwillkürlich zu hämmern. »Wir sind da,
Joel.«
Er tätschelte ihr die Hand. »Keine Sorge, Miss. Wenn Sie möchten,
geh ich zuerst rein und schau nach, ob auch alles sauber ist.« Francesca
bezahlte den Kutscher. »Nein. Wir gehen zusammen hinein.« Sie bemühte sich,
tapfer zu lächeln, aber ihr Mut schien sie plötzlich verlassen zu haben.
Kurz nachdem sie den Türklopfer betätigt hatte, ertönten auch schon
schnelle Schritte im Flur hinter der Tür, und sie wurde unverzüglich
aufgerissen.
Francesca erblickte eine vollbusige Frau Anfang dreißig mit rot
gefärbtem Haar, das sie zu einer Lockenfrisur aufgesteckt hatte. Die Frau trug
ein gut geschneidertes Kostüm, dessen Jacke nach Francescas Geschmack
allerdings ungebührlich viel Dekolleté zeigte, und hatte große,
aquamarinfarbene Tropfenohrringe angelegt. An ihrem Ausschnitt steckte eine
riesige aquamarinfarbene, mit Diamanten besetzte Anstecknadel in der Form
eines Schmetterlings, und an den Händen trug sie drei Ringe, die allesamt mit
Edelsteinen versehen waren. Sie hatte ein hübsches, kunstvoll geschminktes
Gesicht. Francesca wusste sofort, dass sie es nicht mit einer Dame von Stand zu
tun hatte.
Sie spähte an der Frau vorbei ins Haus und erblickte einen mit
Holzboden ausgestatteten Flur, der sich an den kleinen Eingangsbereich
anschloss, und eine Treppe, die neben dem Eingang in den ersten Stock führte.
Am Ende des schwach beleuchteten Flures befand sich eine geschlossene Tür,
unter der ein Lichtschein nach außen drang.
»Gott sei Dank, Miss Cahill, Sie sind gekommen!«, rief die Frau
erleichtert. »Wer ist denn das?«, fuhr sie mit einem leicht misstrauischen
Unterton fort, als ihr Blick auf Joel fiel.
»Ich bin ihr Gehilfe«, verkündete Joel, schlüpfte unter dem Arm
der Frau hindurch, die immer noch die Tür offen hielt, und verschwand im Flur.
Francesca nahm sich vor, Joel bei nächster Gelegenheit zu sagen,
dass es besser war, wenn sie das Reden übernahm. »Miss de Labouche?«
»Ja, ja, kommen
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