Brennaburg
Kindesbeinen an: Ein gefräßiger Wichtigtuer, dessen Fähigkeiten sich darin erschöpften, bei seinen Prophezeiungen keinen ›Fehler‹ zu begehen und die Augen derart zu verdrehen, daß man geraume Zeit nur noch das Weiße sah; es war schon erstaunlich, wie lange er das ertrug. Natürlich hütete sich der Fürst, in der Öffentlichkeit seine Autorität zu erschüttern. War er aber allein mit ihm, verspottete er ihn erbarmungslos. Von ihm hatte er also keine unliebsamen Überraschungen zu befürchten.
Anders verhielt es sich mit denjenigen, die ihn begleiten sollten, machtgewohnte Männer, die durch priesterliche Künste so wenig zu beeindrucken waren wie er selbst. Mehr als einer von ihnen hegte die Hoffnung, sein Nachfolger zu werden, und dies keineswegs unbegründet. Sein ältester Sohn Niklot war im Kampf gegen die Eindringlinge gefallen, den zweiten hatte ein Fieber dahingerafft, der dritte war mit Schwachsinn geschlagen, der jüngste befand sich in Geiselhaft; die Enkel aber waren noch minderjährig. Sollte er, Pribislaw, während der Gefangenschaft Tugumirs sterben, würde die Herrschergewalt daher auf einen der Gaufürsten übergehen. Eine Verbesserung seiner Beziehungen zu den Sachsen hingegen verringerte ihre Aussichten, ihn zu beerben, denn dies beschwor die Gefahr herauf, daß der Sohn entlassen wurde. Von ihnen waren deshalb Einwände gegen die Reise zu erwarten. Da jedoch gewiß niemand von ihnen bereit sein würde, eine Brüskierung der kriegerischen Nachbarn zu verantworten (hierbei ließen sie einander gern den Vortritt), war er zuversichtlich, daß er sich am Ende durchsetzen würde.
Die Beratung mit ihnen war zunächst so verlaufen, wie er es vorausgesehen hatte. Murrend hatten sie ihm zugehört, ihm danach wie üblich vorgehalten, daß er sich den Wünschen derer dort allzu beflissen beuge, verlangt, daß er diesmal die Faust zeigen solle und sich schließlich, als er sie um ihre Vorschläge gebeten hatte, heillos verzankt.
Sicher, daß gegen seine Entscheidung keine Mehrheit zustande kommen würde, hatte er sie reden und streiten lassen. Alle Stämme diesseits der Oder waren ihrer Zinsverpflichtungen überdrüssig, doch keiner wollte als Urheber eines Aufstandes erscheinen, nicht einmal die mächtigen Obodriten. Zu tief saß die Furcht vor den Sachsen, die sich, obschon gegenwärtig in innere Kämpfe verstrickt, letztlich stets als die Stärkeren erwiesen hatten und sogar der Ungarn Herr geworden waren. Boten gingen seit Jahren hin und her, aber die Verhandlungen erbrachten nichts. Man hielt einander hin und war sorgsam darauf bedacht, daß es zu keinem Ergebnis kam, das einen bloßstellen konnte. Jeder klagte, stimmte dem anderen darin zu, daß endlich etwas getan werden müsse, und versprach, daß man dabei unbedingt auf seine Teilnahme zählen dürfe. Die kleinen Stämme blickten erwartungsvoll auf die großen, die wiederum hofften, daß jene zuerst die Beherrschung verloren und das für sie noch viel drückendere Joch abzuschütteln suchten. Jeder lauerte darauf, daß der andere den Anfang machte, um sich, falls er erfolgreich war, ihm anzuschließen – oder ihm bei einem Fehlschlag seinem Schicksal zu überlassen. Offener Aufruhr, das lag auf der Hand, schied unter diesen Umständen aus.
Irgendwann waren sie verstummt. Einer jedoch hatte in diesem Moment zu reden begonnen: Ratibor, das Oberhaupt der Ploni, ein noch junger Mann, der sich bisher an der Aussprache nicht beteiligt hatte. Ratibor war ein bemerkenswerter Mensch. Er lachte selten, ereiferte sich nie und schien, selbst wenn er redete, in Gedanken immer weit weg zu sein. Begab er sich auf die Jagd, geschah es häufig, daß er ohne ein Stück Wild zurückkehrte. Er beschäftigte sich mit der Kunst der Sterndeutung und empfing auf seiner Burg Heilkundige, Wahrsager, Priester verschiedener Glaubensrichtungen sowie Fernkaufleute; letztere nicht bloß, um mit ihnen Geschäfte zu machen oder sie auszuhorchen, sondern vor allem, so behauptete er jedenfalls, weil ihm ihre Gesellschaft schlicht Vergnügen bereitete. Er verstand mehrere Sprachen und vermochte, wie es hieß, sogar Schriften zu lesen.
Die anderen Fürsten mieden seine Nähe, so wie er die ihre nicht gerade suchte, und auch Pribislaw war er nicht recht geheuer. Dies verstellte ihm indes nicht den Blick dafür, daß Ratibor für ihn unersetzlich war. Bereits sein verstorbener Vater hatte als geschickter Verhandlungsführer gegolten, der Sohn war es nicht minder, weswegen
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