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Brennen Muss Salem

Brennen Muss Salem

Titel: Brennen Muss Salem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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mit ihren gelben, reptilartigen Augen. Und vielleicht genügte es ihnen eines Nachts nicht mehr, nur hinauszustarren; vielleicht würde in einer Nacht das zersplitterte Tor, das nur noch an einer Scharniere hing, offen stehen, und was man dahinter erblickte, würde einen auf der Stelle in den Wahnsinn treiben.
    Man konnte das weder Vater noch Mutter erklären, die ja zu den Geschöpfen des Lichts zählten. So wenig, wie man ihnen als Dreijähriger hatte erklären können, daß der Fußvorleger unter dem Gitterbett sich plötzlich in einen Haufen Schlangen verwandelt hatte, die einen mit ausdruckslosen Augen beobachteten. Kein Kind wird jemals mit diesen Ängsten fertig, dachte Matt. Wenn eine Angst nicht artikuliert werden kann, kann man sie auch nicht besiegen. Und die Ängste, die in kleinen Kinderköpfen nisten, sind viel zu komplex, als daß sie durch eine so kleine Öffnung wie den Mund heraus könnten. Früher oder später fand sich dann jemand, der einen zu all den verlassenen Spukhäusern, an denen man im Laufe eines Lebens vorbei muß, begleitete. Bis heute nacht. Bis zu dieser Nacht, in der Matt herausfand, daß keine einzige der alten Ängste überwunden war. Nur weggeschoben waren sie, verwahrt in kleinen Kindersärgen, mit einer wilden Rose am Deckel.
    Er zündete kein Licht an. Er stieg die Stufen hinauf, eine nach der ändern, und vermied die sechste, weil sie knarrte. Er umklammerte das Kruzifix; seine Handflächen waren klebrig und feucht.
    Oben angekommen, wandte er sich leise um und blickte den Gang entlang. Die Tür zum Gästezimmer stand offen. Als er fortgegangen war, hatte er sie geschlossen. Von unten hörte er den gleichmäßigen Tonfall von Susans Stimme.
    Matt ging vorsichtig, um jedes Knarren zu vermeiden, bis zur Tür. Die Basis aller menschlichen Ängste, dachte er: eine angelehnte Tür, nur ein wenig geöffnet.
    Er stieß die Türe auf.
    Mike Ryerson lag auf dem Bett.
    Mondlicht floß durch das Fenster und versilberte das Zimmer, machte es zu einem schimmernden See der Träume. Matt schüttelte den Kopf, als wolle er klarer sehen. Beinahe schien es ihm, als habe er sich in der Zeit zurückbewegt, als sei dies wieder die vergangene Nacht. Er würde sogleich hinunter gehen und Ben anrufen, denn Ben war noch nicht im Spital -
    Mike schlug die Augen auf.
    Einen Augenblick lang glänzten sie im Mondlicht, silbergerändert und rot. Sie waren leer wie eine gewaschene Schultafel.
    Kein menschlicher Gedanke, kein menschliches Gefühl war in ihnen. Die Augen sind die Fenster der Seele, hatte Wordsworth gesagt. Wenn dem so war, dann schauten diese Fenster aus einem leeren Raum.
    Mike setzte sich auf, das Leintuch glitt von seiner Brust, und Matt sah die groben Nähte des Pathologen, der die Spuren der Autopsie zugenäht hatte.
    Mike lächelte, seine Eckzähne waren weiß und spitz. Das Lächeln selbst war nur ein Muskelreflex; es erreichte nicht die Augen. Die behielten vielmehr ihre tote Leere.
    »Sieh mich an«, sagte Mike sehr deutlich.
    Matt sah Mike an. Ja, die Augen waren völlig ausdruckslos.
    Aber sehr tief. Beinahe konnte man sich in diesen Augen spiegeln, konnte darin versinken, konnte die Welt vergessen, alle Ängste vergessen –
    Matt trat einen Schritt zurück und schrie: »Nein! Nein!«
    Und hielt das Kruzifix in die Höhe.
    Was Mike Ryerson gewesen war, zischte, als habe man heißes Wasser in sein Gesicht geschüttet. Die Arme schössen hoch, als wollten sie einen Schlag abwehren. Matt kam einen Schritt näher, Ryerson wich einen Schritt zurück.
    »Verschwinde!« krächzte Matt. »Ich widerrufe meine Einladung!«
    Ryerson stieß einen Schrei aus, einen heulenden Schrei voll von Haß und Schmerz. Ryerson wich weiter zurück, bis er das Fenster erreichte.
    »Ich werde dich schlafen sehen wie einen Toten, Lehrer!«
    Er fiel rückwärts in die Nacht hinaus, die Hände über dem Kopf erhoben, wie ein Kunstspringer auf einem hohen Trampolin. Der blasse Körper schimmerte marmorgleich, und die schwarzen Stiche, die wie ein Y über den Torso verteilt waren, bildeten dazu einen harten, bösen Kontrast.
    Matt stöhnte auf, stürzte zum Fenster und schaute hinaus. In der monddurchfluteten Nacht war nichts zu sehen – unter dem Fenster, im Licht, das aus dem Wohnzimmer fiel, tanzten Mük-ken, als wären sie Sonnenstaub. Sie drehten sich, formten ein Muster, das etwas erschreckend Menschenähnliches hatte, und lösten sich in Nichts auf.
    Matt wandte sich um und wollte laufen. In diesem

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