Brennende Fesseln
heben, ganz vorsichtig, damit sie mir ja nicht entgleitet. Ihr Körper ist weich und glitschig, und ihre stämmigen Beinchen strampeln in der Luft, während ich sie auf die mit einem Handtuch bedeckte Küchentheke lege, sie in ihr Lieblingshandtuch mit der aufgedruckten Micky Mouse hülle und sie am ganzen Körper abrubble, bis ihre Haut rosig und trocken ist. Ich möchte Babypuder auf ihre Haut streuen, ihren Bauch küssen und den angenehmen leichten Puderduft ihrer samtigen Haut einsaugen, möchte, daß Franny nach meinen Haaren greift, sich eine Handvoll packt und ungeduldig daran zerrt. Ich möchte den Puder in ihre winzigen Füße massieren, während sie lächelt und sich auf dem Handtuch
windet, ihre Fußsohlen anpusten, jeden einzelnen ihrer Babyzehen küssen und zusehen, wie sie gähnt und ihre Augenlider langsam schwer werden. Ich möchte Franny ihren warmen einteiligen Fleece-Schlafanzug mit dem weißen Spitzenkragen anziehen, meine fast schon schlafende Schwester an die Brust drücken und ihren süßen Atem riechen, ihre leicht geöffneten Miniaturlippen betrachten. Und ich möchte meine Wange in Frannys Haar schmiegen und sie, während sie in meinen Armen tief und fest schläft, sanft auf den Kopf küssen, nur noch ein einziges Mal.
Ich schlage die Augen auf. Ich denke an Franny, als sie fünf war, an ihr Kindergartenfoto, auf dem sie so schüchtern lächelt. Ihr braunes, lockiges Haar ist mit zwei Plastikschmetterlingen zu Zöpfen gebändigt, und sie hat den Kopf auf die Hand gestützt. Der Fotograf hatte sie nicht dazu bewegen können, die Hand wegzunehmen. Ich war damals fünfzehn und fand es nicht mehr so toll, die Zweitmutter zu spielen. Franny war fünf, Billy vier, und der Reiz des Neuen war längst verflogen. Natürlich liebte ich die beiden, aber sie bedeuteten ein ständiges Ärgernis für mich – sie liefen dauernd hinter mir her, quasselten ununterbrochen und schlichen sich heimlich in mein Zimmer, um Tierbilder aus meinen Lieblingszeitschriften zu reißen und sich mit meinem Lippenstift gegenseitig das Gesicht zu bemalen. Ich interessierte mich damals mehr für Jungs als für meine Geschwister und war jedesmal sauer, wenn ich am Wochenende hin und wieder einen Abend opfern und Babysitter spielen mußte, damit Mom und Dad ins Kino gehen konnten. Natürlich machte ich Franny und Billy dafür verantwortlich. Als ich siebzehn war, stand ich meine Teenagerkrisen durch, und mit achtzehn verschwand ich ans College. Ich kam zwar gelegentlich zu Besuch nach Hause, war aber von der Schule, meinen Prüfungen und einem Teilzeitjob beim Lokalblatt sehr in Anspruch genommen. Ich versuchte, mir eine Zukunft, ein neues Leben aufzubauen, und
meine Familie – Billy, Franny, meine Eltern – gehörte zu meinem alten Leben. Sie waren mir nach wie vor wichtig, das schon, aber sie standen nicht mehr an erster Stelle. Wenn ich an meine Jahre zwischen achtzehn und vierundzwanzig zurückdenke, habe ich nur wenige konkrete Erinnerungen an Franny: Wir sahen uns bloß bei Familiengeburtstagen und an Weihnachten, und dann bei Billys Beerdigung, wo sie sich im Hintergrund hielt und mit niemandem sprach, als befände sie sich in einem Zustand der Trance. Vage Erinnerungen, mehr nicht. Der Prozeß der Vernachlässigung hatte bereits eingesetzt. Damals hätte sie mich gebraucht, aber ich habe es nicht bemerkt.
Während ich ins Haus gehe, denke ich, wie traurig es doch ist, daß alle meine guten Erinnerungen an Franny aus den ersten paar Jahren ihres Lebens stammen. Ian kommt heute abend herüber, deswegen fange ich an, das Abendessen vorzubereiten: gebackenen Fisch, Salat und Weißbrot. Als er kommt, tritt er hinter mich, legt die Arme um meine Taille und küßt mich sanft auf den Nacken. Der angenehme süße Duft, der ihn umgibt, sagt mir, daß er am Blumenstand in der F Street angehalten hat, wie er es so oft tut, um mir einen Strauß blauer und weißer Lupinen zu kaufen, oder einen Strauß Fingerhut oder ein paar gelbe Gauklerblumen. Während wir essen, berichtet Ian von seinem Tag. Nach der Arbeit hat er kurz in seiner Wohnung vorbeigeschaut und seinen Anzug gegen Jeans und ein rot-grau kariertes Hemd vertauscht, in dem er wie ein Holzfäller aussieht: kräftig, grobknochig, bunyanesk. In seinen riesigen Händen wirken Messer und Gabel fast wie Spielzeug. Seine Stimme aber ist leise und sanft, und er erzählt mir von dem Artikel, an dem er gerade arbeitet. Während er redet, lehne ich mich über den Tisch und
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