Brennende Fesseln
Ich parke meinen Honda in der Auffahrt und bleibe nachdenklich im Wagen sitzen. Das Video mit dem Mädchen geht mir nicht aus dem Kopf. Sie war bestimmt nicht älter als zehn, wahrscheinlich jünger. Ich weiß natürlich, daß es diese Dinge gibt, aber ich hatte so etwas noch nie selbst zu Gesicht bekommen. Wenn ich von pornographischen Videos mit Kindern höre, denke ich meistens an ferne Länder, Thailand, Vietnam, Kambodscha, nicht an die Vereinigten Staaten. Das ist naiv, ich weiß. Auch in unserem Land kann es finster zugehen, und solange es einen Markt für Kinderpornos gibt, wird es auch Leute geben, die so etwas anbieten. Das Böse hält sich nicht an geographische Grenzen.
Ich denke an Franny, wie sie mit neun oder zehn war. Ich kann sie mir nicht in einem solchen Video vorstellen. Ein entsetzlicher Gedanke, einfach unfaßbar. Ich denke an die Zeit zurück, als ich selbst neun war: Ich spielte noch mit Puppen, verdiente mir Abzeichen für meine Girl-Scout-Uniform, zerbrach mir den Kopf darüber, was ich in die Schule anziehen sollte – eine normale Kindheit mit normalen Erinnerungen, wie sie eigentlich auch das Mädchen aus dem Video haben sollte.
Die Zypressen neben meinem Haus wiegen sich in der sanften
Brise. Vögel, die in den Wipfeln nisten, huschen zwischen den immergrünen Bäumen ein und aus. Mein Haus ist leer, aber heute will ich nicht allein sein. Ich überlege, welche Möglichkeiten ich habe, und muß feststellen, daß sie sehr begrenzt sind. Ian arbeitet, und M. will ich nicht sehen. Mit meinen anderen Freunden und Kollegen habe ich keinen Kontakt mehr. Ich habe keine Familie.
Ich presse die Hände an die Stirn und erinnere mich an die Zeit, als Franny noch ein Baby war. Jahrelang hatte ich meine Eltern genervt, weil ich unbedingt einen Bruder oder eine Schwester wollte – vorzugsweise eine Schwester –, jemanden, mit dem ich spielen konnte, wenn wir zum Campen oder Picknicken fuhren; jemanden, dem ich mich anvertrauen konnte, wenn ich fand, daß Mom und Dad ungerecht waren. Aber als Franny dann endlich kam, war es zu spät – sie war zehn Jahre jünger als ich und schied als Spielkameradin aus. Was dann passierte, war aber viel schöner. Als meine Eltern Franny aus dem Krankenhaus nach Hause brachten, sagte meine Mutter, ich solle mich auf die Couch setzen, und dann legte sie mir das Baby in die Arme. Franny war so winzig, so zerbrechlich. Als ich sie so hielt, spürte ich eine ungeheure Welle der Liebe für dieses kleine Wesen in mir aufsteigen, das erst vor wenigen Minuten in mein Leben getreten war. Von da an war ich eine zweite Mutter für Franny. Nach der Schule stürzte ich sofort nach Hause, um mit ihr zu spielen, sie zu füttern, sie anzuziehen. Meine Puppen wurden ausrangiert. Ich hatte jetzt ein richtiges Baby, und ich war sicher, daß ich später jede Menge eigene haben wollte.
Ich schließe die Augen. Als liefe in meinem Kopf ein Film ab, sehe ich Mom am Küchentisch sitzen und Billy stillen, während ich Franny in unserem Emaillespülbecken bade. Ich will diese Zeit zurückhaben. Ich möchte Franny noch einmal in das mit lauwarmem Wasser und Schaumbad gefüllte Spülbecken tauchen und ihr zusehen, wie sie jauchzend versucht,
die Seifenblasen mit ihren kurzen, dicken Fingern zu zerquetschen. Ich möchte die gelbe Gummiente unter Wasser drücken, als wäre sie ein U-Boot, und sie dort festhalten, während Franny planschend nach ihr sucht. Dann, wenn Franny gerade nicht aufpaßt, lasse ich die Ente los, sie durchbricht – Überraschung! – die Wasseroberfläche, und Franny quietscht vor Vergnügen, greift nach der schaumbedeckten Ente und versucht sie nun ihrerseits zu ertränken, während Mom mit Billy an der Brust lächelnd zuzieht. Dann kommt Daddy nach Hause, stürzt, eine Aktenmappe unter dem Arm, zur Küchentür herein, wirft die Zeitung auf den Tisch und rückt seine Brille zurecht. Die wirbelnde Bewegung läßt uns alle einen Moment innehalten, als wäre die Zeit vorübergehend stehengeblieben. Dann beginnt Franny quietschend mit den Armen zu rudern, und sie strahlt so breit, daß man meinen könnte, sie hätte ihn schon tagelang nicht mehr gesehen. Dad lacht sein tiefes, glucksendes Lachen, stellt die Aktentasche ab, gibt Mom einen Kuß und streichelt Billy über den Kopf. Dann kommt er zu mir herüber und fragt: »Wie geht’s meinen Mädchen?« Er umarmt mich und kitzelt Franny am Kinn.
Ich möchte diese Zeit zurückhaben. Ich möchte Franny aus dem Wasser
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