Brennende Fesseln
hinter mir zu. Die Musik ist jetzt lauter zu hören. Ein paar Strahlen der Nachmittagssonne fallen schräg durch das Oberlicht und tauchen die Diele in helles Licht. In der Ecke steht ein Topf mit einer prächtig gedeihenden Trauerfeige, deren glänzende Blätter an die von Weiden erinnern. Ich lausche der Musik, kann das Stück, das M. spielt, aber nicht erkennen – etwas Leichtes, Lyrisches, Romantisches.
Ich spähe ins Arbeitszimmer, aber er blickt nicht auf. Sein Rücken ist gerade, sein Haar leicht wirr, und er wirkt entrückt, völlig in seiner Musik gefangen. Das Haar fällt ihm in die Augen, und am liebsten würde ich zu ihm hingehen und es ihm aus der Stirn streichen. Aber ich wage es nicht. Er wirkt in diesem Moment unberührbar, wie verzaubert, verloren in einer anderen Welt. Sein Anblick erregt mich, und jetzt wünsche ich mir erst recht, ihn zu unterbrechen. Ich möchte, daß
er mich auf seinem geliebten Flügel fickt, aber dann fällt mir meine schlampige Aufmachung ein – ich trage eine schmuddelige, am Knie zerrissene Jogginghose und dazu ein langes blaues Arbeitshemd von einem meiner Exfreunde, das am Kragen und an den Manschetten schon ausfranst. Mein Haar hat seit drei Tagen kein Shampoo gesehen. Ich überlege es mir anders. M.s Aura wirkt zu einschüchternd, er ist viel zu sexy für mich.
Die Melodie wird lebhafter, seine langen, eleganten Finger wirbeln wie wild über die Tastatur. Er runzelt die Stirn.
»Verdammt!« murmelt er, hört auf zu spielen, fährt sich mit den Fingern durch das dunkle Haar und beginnt von vorn; er bemerkt mich nicht. Offenbar hat er einen falschen Ton erwischt, obwohl mir nichts aufgefallen ist. Sein Kopf nickt im Takt der Musik.
Ich verlasse den Raum, ohne ihn zu stören, und gehe den Gang zum Gästezimmer hinunter. Ich mache die Tür auf, kann aber nichts sehen. Im Raum ist es dunkel wie in einer unterirdischen Höhle. Ich taste nach dem Lichtschalter, aber nichts passiert. Offenbar ist das Zimmer noch immer ohne Lampen und Deckenbeleuchtung. Ich gehe in die Küche und suche nach einer Taschenlampe. In einer Schublade finde ich Tesafilm, Notizblöcke, Stifte, eine Schere und die Gebrauchsanweisung für seine Mikrowelle und den Herd, aber keine Taschenlampe. Als nächstes versuche ich es im Besenschrank in der Ecke. An der Wand lehnen Besen und Schrubber, auf dem Boden steht ein Mülleimer, und im obersten Regalfach entdecke ich einen Feuerlöscher und, gleich daneben, eine Taschenlampe. Ich nehme sie und gehe zurück durchs Haus. An der Tür zum Arbeitszimmer bleibe ich stehen. M. spielt immer noch, ohne meine Gegenwart zu bemerken.
Wieder im Gästezimmer, schalte ich die Taschenlampe an. Ein Kegel hellen Lichts fällt auf die Wand. Ich richte die Lampe auf die nächste Wand und dann auf die nächste. Der
ganze Raum ist schwarz gestrichen, und schwere schwarze Vorhänge sperren die Nachmittagssonne aus. Als ich zu den Vorhängen hinübergehe und sie zurückziehe, stelle ich fest, daß das Fenster zusätzlich mit Jalousien verdunkelt ist. Ein ovaler schwarzer Teppich bedeckt den Boden. Er reicht fast bis an die Wand, so daß vom Holzboden kaum etwas zu sehen ist.
Erziehungszimmer hat M. es genannt. Und er hat gesagt, daß ich bald herausfinden würde, wofür es gut sei. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend schalte ich die Taschenlampe aus, verlasse das Zimmer und ziehe die Tür hinter mir zu. Nachdem ich die Taschenlampe in die Küche zurückgebracht habe, bleibe ich vor dem Arbeitszimmer stehen und lausche der Musik, die jetzt ganz anders klingt als vorher: qualvoll und düster wie für ein Begräbnis, mit schweren, dramatisch gehämmerten Akkorden. Sie erinnert mich an einen Ausflug, den ich einmal mitten im Winter an die Big-Sur-Küste gemacht habe. Damals war das Meer grau und trist, Nebel lag wie ein Leichentuch über den Santa-Lucia-Bergen, und die unaufhörlich ans Ufer donnernden Wellen führten einem die Belanglosigkeit des Menschen vor Augen. Auch jetzt empfinde ich meine Belanglosigkeit, und ich verlasse M.s Haus, ehe er meine Anwesenheit bemerkt.
Ein paar Tage später, als M. gerade unter der Dusche steht, hole ich mir erneut die Taschenlampe und sehe mir den Raum genauer an. Als Gästezimmer kann man das nicht mehr bezeichnen. In einer Ecke ist an mehreren Ketten eine Art Ledergeschirr mit Riemen für die Beine und Metallringen für die Füße aufgehängt. Und in der Mitte des Raumes baumelt eine Hebevorrichtung – mit Stahlrollen
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