Brennende Fesseln
und einem Nylonseil – von dem Holzbalken an der Decke. Ich suche mit dem Lichtstrahl die restliche Zimmerdecke ab und stelle fest, daß an verschiedenen Stellen Metallhaken angebracht sind. M. zufolge ist der Raum immer noch nicht fertig eingerichtet.
23
Gestern, als ich M. diese düstere Musik spielen hörte, wurde mir klar, wie hermetisch abgeriegelt mein Leben inzwischen ist. Ich bin in eine Welt dunkler Isolation abgeglitten, in deren Zentrum M. steht. Ich hatte einmal einen Beruf. Ich hatte Freunde. Aber nach und nach habe ich alles verloren. Es ist Mitte Juni, und ich habe Maisie seit Februar nicht mehr gesehen – seit ich anfing, mich mit M. zu treffen. Vor Frannys Tod war Maisie meine beste Freundin, aber seitdem habe ich auch sie aus meinem Leben ausgeschlossen.
Am Samstag rufe ich Maisie an. Nach unserem Gespräch fahre ich auf ihr Drängen hin nach Sacramento, um sie zu besuchen. Sie hat vor einiger Zeit ein altes, viktorianisch-gotisches Haus gekauft und in eine Pension umgewandelt. Monatelang habe ich ihr immer wieder versprochen, vorbeizukommen und es mir anzusehen. Ich bremse und biege ab, halte nach der richtigen Adresse Ausschau. Schließlich parke ich vor einem großen zweistöckigen Gebäude, das ziemlich baufällig aussieht. Es steht in einer schönen Straße, über der anmutige Ulmen und dickstämmige Platanen einen schattenspendenden Baldachin bilden, aber das Haus selbst befindet sich in einem Zustand des Verfalls. Maisie hat zwar gesagt, sie müsse es erst renovieren, aber mit einer solchen Bruchbude habe ich nicht gerechnet: Überall blättert die Farbe ab, und die Veranda hängt in der Mitte durch wie der Rücken eines alten, zu oft gerittenen Pferdes. Die Fenster sind verschmiert und fast blind, die Fensterläden windschief, und in der Auffahrt liegt eine achtlos umgeworfene, verbeulte Mülltonne.
Ich betrete das Haus. Mein Blick fällt auf eine alte Treppe, die aussieht, als würden ihre Stufen schrecklich knarren. Eine nackte Glühbirne hängt von der Decke der schäbig wirkenden Diele, deren billige Holzvertäfelung stellenweise stark verzogen
ist. Ich wende mich nach rechts und werfe einen Blick in ein rosa gehaltenes Wohnzimmer – bei einem so alten Haus sollte man wohl lieber Salon sagen –, in dem schwaches Dämmerlicht herrscht. Die Jalousien sind halb zugezogen, die Stehlampen mit den rosa bestickten Schirmen spenden nur gedämpftes Licht. An der Wand steht ein Tisch mit einer schweren Leinentischdecke.
»Du bist schon da!« höre ich Maisie rufen und drehe mich um. Sie ist eine große Frau Ende Dreißig, mit schrägen Augenbrauen und extrem schmalen Lippen. Sie trägt ein weißes Kleid, bedruckt mit großen, üppigen Rosen. Ich hatte ganz vergessen, daß Maisie immer Kleider mit riesigen Blumendrucken trägt, bei deren Anblick ich jedesmal den Impuls verspüre, laut zu schreien. Ich hatte auch vergessen, daß sie in dem Bemühen, ihre spärlichen Lippen zu kaschieren, immer zuviel Lippenstift aufträgt. Sie benutzt knallige Rottöne und malt die Lippen voller, als sie in Wirklichkeit sind, so daß es, wenn sie lächelt, aussieht, als würde sich das Lächeln über ihr ganzes Gesicht ausbreiten.
»Ich freue mich so, dich endlich mal wiederzusehen«, sagt Maisie und stürzt auf mich zu, um mich fest in die Arme zu schließen.
»Ich mich auch.«
Sie hält mich von sich weg und mustert mich über den Rand ihrer riesigen, violett getönten Brille mit den flügelförmigen Gläsern. »Du siehst furchtbar aus«, stellt sie nüchtern fest.
Ich zucke die Achseln. Was soll ich dazu sagen?
»Komm«, sagt sie und nimmt mich am Arm. »Du mußt erst mal das Haus besichtigen.«
Wie sich herausstellt, gibt es nicht viel, was eine Besichtigung lohnt. Das Treppengeländer muß neu befestigt werden, die Wände gehören gestrichen, die Hintertür repariert. Ich möchte etwas Positives sagen und äußere mich schließlich über die Zimmerdecke. »Mir gefallen die Schnörkel an der
Decke«, sage ich. Zum Glück macht Maisies Geplapper meinen Mangel an Begeisterung wett.
Sie geht mit mir ins Kinderzimmer – den einzigen halbwegs passablen Raum, mit gelben Wänden und einer Zierleiste aus roten und blauen Clowns – und sieht nach ihrem zweijährigen Sohn, der in seinem weißen, hölzernen Kinderbett tief und fest schläft. Er liegt auf dem Bauch und hat den Daumen im Mund. Ich beuge mich über das Bett und streiche ihm sanft über den Rücken. Er trägt ein blaues T-Shirt und
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