Brennende Fesseln
poliert, und die Bäume trieben Blätter aus, die sich vorsichtig zu einem hellen, zarten Grünton entfalteten.
Durch die Jalousien konnte Franny einen Eichelhäher von einem Baumwipfel zum nächsten fliegen sehen. Sie hatte den Frühling immer genossen, es war ihre liebste Jahreszeit, die Zeit der Erneuerung und des Neubeginns, aber dieses Jahr hatte sie keinen Sinn für seine Schönheit.
Sie machte einen Abstecher in die Cafeteria, holte sich eine Tasse Kaffee und zwei Schokoriegel aus dem Automaten und setzte sich hin. Sie hatte Kopfschmerzen und fühlte sich überhaupt nicht wohl. Während sie die Verpackung von einem Schokoriegel riß, dachte sie an die letzte Nacht. Michael hatte sie wieder gefesselt. Sie verstand nicht, warum er das tat. Sie verstand auch nicht, wie ein so sanfter Mensch so brutal sein konnte. Er hatte sie in seinen Armen gehalten, ihr zärtlich das Haar aus dem Gesicht gestrichen und schweigend zugehört, als sie ihn anflehte, ihr nicht weh zu tun. Als sie verstummt war, hatte er ihr in ruhigem Ton erklärt, daß er sie fesseln werde, sooft ihm danach sei, und daß er von ihr erwarte, daß sie sich seinen Wünschen füge. Anschließend hatte er sie sanft geküßt, sie ausgezogen und liebevoll ihren Körper gestreichelt. Und während sie auf dem Bett lag und ins Kissen weinte, war ihr zum ersten Mal bewußt geworden, daß es immer so sein würde, daß sie ihn nicht ändern konnte und daß er – aus Gründen, die sie noch nicht verstand – immer das Bedürfnis haben würde, sie erniedrigt und gedemütigt vor sich zu sehen. Sie wußte aber auch, daß sie bereit war, seine Brutalität hinzunehmen, solange sie darauf hoffen konnte, daß er sie eines Tages lieben würde. Vielleicht war seine Brutalität eine Art Test, den sie bestehen mußte. Und irgendwo in ihrem Hinterkopf waren flüchtige Bruchstücke weit zurückliegender Gedanken vorbeigetrieben, Strandgut vergangener Zeiten: leiden, um stark zu werden, einen neuen Schmerz benutzen, um einen alten zu lindern, die Sioux-Regel, daß zwangsläufig eines zum anderen führt.
Anschließend hatte sie vor dem Bett niederknien und Brust
und Gesicht auf die Matratze pressen müssen, während er ihre Hände an den Bettpfosten festband und die Stricke so festzurrte, daß sie sich die Haut aufschürfte, als sie später versuchte, sich zu befreien. Er hatte sie mit einem Stock geschlagen, was schmerzhafter war als mit dem Gürtel, dem Schläger oder der Reitgerte. Hinterher hatte sie rote Striemen auf dem Po gehabt, häßliche Male, die wie Einschnitte auf einem Stück Fleisch aussahen, lange, dünne, brennende Spuren seiner fehlgeleiteten Zuneigung. Michael hatte sich anschließend bei ihr entschuldigt. Er habe nicht vorgehabt, so schlimme Striemen zu hinterlassen, sein Temperament sei mit ihm durchgegangen. Er hatte versprochen, sie nicht mehr zu züchtigen – zumindest nicht körperlich –, bis die Wunden verheilt seien. Aber das andere, das Nichtkörperliche, war genauso schlimm – nein, noch schlimmer. Sie konnte sich nicht überwinden, in ihrem Tagebuch festzuhalten, was er ihr alles antat; es war ihr zu peinlich. Jeden Tag spielte sie mit dem Gedanken, sich von ihm zu trennen, aber sie wußte, daß sie es nicht schaffen würde. Schon gar nicht jetzt, wo Mrs. Deever tot war. Jetzt brauchte sie ihn mehr denn je. Franny aß den Rest ihres zweiten Schokoriegels und stand auf, um sich noch einen zu holen.
Vor zwei Wochen war Mrs. Deever in einem schrecklichen Zustand in die Klinik gekommen. Sie war apathisch, ihr Blutdruck war niedrig, ihr Magen aufgebläht. Franny rief den Arzt, der Mrs. Deever ins Kaiser-Hospital einliefern ließ. Eine Woche später war sie im Krankenhaus gestorben. Franny hatte damit gerechnet, daß das irgendwann passieren würde, aber es hatte sie trotzdem aus der Bahn geworfen. Sie war Dialyseschwester geworden, um Menschen zu retten, Menschen wie Billy, und es tat ihr jedesmal weh, wenn ein Patient starb. Aber bei Mrs. Deever hatte sie das Gefühl, noch mal eine Mutter verloren zu haben. Die alten Gefühle, die sie zu verdrängen versucht hatte, die Einsamkeit, die Verlassenheit, die Unsicherheit,
das alles kam wieder hoch und erinnerte sie daran, an welch seidenem Faden ihre Beziehungen zu den Menschen hingen, die sie liebte. Sie wurde von Kummer überwältigt, einem Kummer, der viel tiefer wurzelte als in ihrer Trauer um Mrs. Deever. Ihr erster Impuls war, all ihre Gefühle für sich zu behalten, aber sie wußte, daß
Weitere Kostenlose Bücher