Brennende Fesseln
sie einen kritischen Punkt erreicht hatte. Sie war am Abrutschen, und wenn sie jetzt nicht um Hilfe bat, würde sie in einen Abgrund gleiten, aus dem niemand mehr sie retten konnte. Sie hatte Nora angerufen, aber Nora war nicht zu Hause gewesen und rief auch nicht zurück. Und Michael, nun, er verstand ihre Trauer um Mrs. Deever, aber im Grunde war sie ihm egal. Das zeigte sich an seinem Verhalten. Er hatte Mrs. Deever nicht gekannt, also konnte sie ihm seine Gleichgültigkeit kaum vorwerfen, aber sie hatte geglaubt, daß er mehr Verständnis für ihre Gefühle aufbringen würde. Die Tatsache, daß er genausowenig auf ihre Probleme reagierte wie Nora, ernüchterte sie. Sie hatte das Gefühl, völlig allein dazustehen und langsam in eine entlegene Dimension ihres Geistes abzugleiten. Genau davor hätte Michael sie eigentlich bewahren sollen.
Sie hatte gehofft, daß er sie inzwischen liebte, aber er schien sich eher jede Woche weiter von ihr zu entfernen. Sie tat alles, was er von ihr verlangte, aber irgendwie konnte sie ihm nichts recht machen. Im Herzen wußte sie, daß ihre Beziehung destruktiv war, und zugleich wußte sie, daß sie ihn nie verlassen würde. Selbst wenn es zwischen ihnen nicht besser würde, würde sie sich mit dem zufriedengeben, was war. Sie wußte noch genau, wie ihr Leben gewesen war, bevor sie Michael kennenlernte, und zu diesem Zustand würde sie nie zurückkehren. Sie war damals sehr verletzlich gewesen, ihre wenigen Erfahrungen mit Männern schmerzhaft, und sie hatte einen undurchdringlichen Schutzwall um sich herum errichtet, der sie davor bewahren sollte, noch einmal verletzt zu werden. Sie hatte sich an die Einsamkeit gewöhnt. Aber Michael hatte diesen
Schutzwall niedergerissen, und wenn er sie jetzt verließ, würde sie noch verletzlicher sein als zuvor. Sie wußte nun, was es hieß, jemanden zu lieben, zu jemandem zu gehören – und sie konnte ihre alte Lebensweise nicht wieder aufnehmen. Michael war alles, was ihr blieb. Sie würde seine Züchtigungen auf sich nehmen, ebenso wie die unaussprechlichen Dinge, die er ihr antat, die Akte, die viel schlimmer waren als die schlimmsten Schläge. Solange er sie liebte oder zumindest versuchte, sie zu lieben, würde sie tun, was immer er verlangte.
Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten. Sie erinnerte sich an ihren Wunsch, aus ihrem Leben herauszutreten und ein Teil des seinen zu werden. Damals hatte sie sich gewünscht, daß Michael ihr den Sinn des Lebens zeigte; sie hatte seine Schülerin sein wollen. Es war ihr so vorgekommen, als würden sie eine Reise antreten, eine Suche, und Michael, ihr Lehrer und Mentor, würde sie befreien, lieben und beschützen – zumindest hatte sie das geglaubt. Es hatte eine wundervolle Reise werden sollen. Damals hatte sie noch nicht geahnt, was daraus werden würde. Woher hätte sie auch wissen sollen, daß es so enden würde?
29
Als Franny bei Michael ankam, war sie auf der Hut. Sie war in Sacramento in einen Stau geraten und zehn Minuten zu spät dran. Sie konnte längst nicht mehr vorhersagen, was ihn in Rage brachte. Sie tat ihr Bestes, um ihm nicht zu mißfallen, aber in letzter Zeit konnte sie tun, was sie wollte, er hatte immer etwas an ihr auszusetzen. Sie parkte ihren schwarzen Cadillac neben dem Randstein und schloß ihn ab. Als sie um den Wagen herumging, dachte sie, daß er mal wieder eine Schicht Wachs brauchte und daß sie ihn polieren mußte.
Sie rechnete damit, daß Michael verärgert sein würde, wenn
er ihr die Tür öffnete, aber statt dessen bat er sie einfach herein und führte sie ins Wohnzimmer. Er setzte sich neben sie auf die Couch, wahrte aber einen höflichen Abstand. Er war wie immer gut gekleidet: Zu seiner anthrazitfarbenen Hose trug er einen weißen, locker gestrickten Pulli, dessen Ärmel er bis zu den Ellenbogen hochgeschoben hatte.
»Ich muß dir etwas sagen, Franny«, setzte er an. In seiner Stimme schwang ein besorgter Unterton, der sie sofort aufhorchen ließ. »Es funktioniert einfach nicht.«
Nervös krampfte sie die Hände im Schoß zusammen. »Was funktioniert nicht?« fragte sie, obwohl sie wußte, was er meinte.
Er sah sie mit einem traurigen Lächeln an. »Du weißt, wovon ich rede«, sagte er weich. Er nahm ihre Hand und hielt sie eine Weile fest. Aus seinem Blick sprach Mitleid. Franny konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so zärtlich gewesen war – vor Monaten vielleicht, kurz nachdem sie sich kennengelernt
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