Brennende Fesseln
nichts zu tun.«
Er wird nie zugeben, daß er die Sachen geschickt hat, deswegen lasse ich das Thema fallen. Ich rolle mich auf die Seite, und M. kuschelt sich an mich.
Ganz nahe an meinem Ohr flüstert er: »Du weißt natürlich, daß ich dich bestrafen werde. Ich habe dir gesagt, daß du mich nicht vom Üben abhalten sollst.«
Ich weiß zwar, daß diese Bestrafung nicht heute erfolgen wird, aber der Gedanke daran läßt mich erbeben. »Ich liebe es, dir beim Spielen zuzuhören«, antworte ich. »Du bist sehr talentiert. Warum unterrichtest du überhaupt? Du könntest doch auch hauptberuflich spielen. Warum verdienst du dir deinen Lebensunterhalt nicht als …« Ich zögere, weil ich mir nicht sicher bin, wie die richtige Bezeichung lautet.
»Als Virtuose?« kommt er mir zu Hilfe. »Talent zahlt sich nicht immer aus.« Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: »Ich bin gut, aber nicht gut genug. Das war ich nie, und ich werde es auch nie sein. Ich kenne meine Grenzen, und ich habe gelernt, sie zu akzeptieren. Mein Wollen geht weit über mein Können hinaus. So einfach ist das.«
Er sagt das in nüchternem Ton, ohne Bitterkeit. Einen Moment lang schweigt er, dann beugt er sich über mich und küßt meine nackte Schulter. Es ist ein sehr zärtlicher Kuß. »Ich möchte, daß du deine Geschichte zu Ende erzählst«, wechselt er mit sanfter Stimme das Thema. »Du hast gesagt, da sei noch mehr.«
Er meint die Abtreibung. Ich drehe mich auf den Rücken und starre an die Decke. Er legt seine Hand auf meinen Bauch und streicht mit den Fingern leicht über meine Haut. Geduldig wartet er, bis ich die richtigen Worte gefunden habe.
»Du wirst wahrscheinlich enttäuscht sein«, sage ich. »Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen.« Wortlos streichelt er meinen Bauch. Seine Berührung ist nicht sexuell, sondern als Trost gedacht.
Als ich schweige, sagt er: »Es geht nicht darum, ob ich enttäuscht
bin oder nicht. Mir liegt etwas an dir. Ich möchte mehr über dich wissen.«
Seufzend überlege ich, wieviel ich ihm erzählen und was ich verschweigen soll. »Nach der Abtreibung lebte ich fünf Jahre lang zölibatär – auch wenn das niemand wußte. Ich erzählte allen von meinen Freunden, aber das waren Phantome, die ich erfunden hatte, um keine Fragen beantworten zu müssen. Mit dreiundzwanzig kam ich zu dem Schluß, daß meine Lebensweise nicht normal war. Deswegen schlief ich mit jemandem, einfach so, obwohl er mir überhaupt nichts bedeutete. Dann fing ich an, mit vielen Männern zu schlafen, von denen mir ebenfalls keiner etwas bedeutete. Es war Sex, sonst nichts. Das paßte zu meinem Lebensstil. Ich war neu beim Bee und hatte unglaublich viel zu tun. Für mehr als oberflächliche Affären blieb mir gar keine Zeit.«
Ich halte inne. Nach einer Weile sage ich: »Es ist schon komisch, wie ein einziger kleiner Vorfall alles verändern kann. Kaum zu glauben, daß so etwas so weit reichende Folgen haben kann. Eigentlich sollte man nicht zulassen, daß eine Entscheidung, die man als Teenager trifft, ein solches Gewicht bekommt. Man sollte sich von so etwas nicht das ganze Leben verpfuschen lassen. Derartige Entscheidungen sollten wie die Fragen bei einer Prüfung nach Punkten bewertet werden. Du bist achtzehn und hast eine falsche Entscheidung getroffen? Okay, diese Entscheidung wird dir nur vier Jahre lang nachhängen. Aber mit achtundzwanzig? Nun, jetzt bist du zehn Jahre älter, du hättest es besser wissen müssen; dieselbe Entscheidung wird dich zehn Jahre deines Lebens kosten. Mit achtundvierzig? Jetzt hast du es vermasselt; du wirst den Rest deines Lebens darunter leiden.« Ich muß an Franny denken – daran, wie grundlegend sich ihr Leben an dem Tag änderte, als Billy starb. Wieder sehe ich die Parallelen in unserem Leben. Sie fühlte sich verantwortlich für einen Tod, den sie nicht hatte verhindern können, ich für einen, den ich selbst verursacht
hatte. Beide waren wir hinterher eine völlig andere als zuvor.
Seufzend sage ich: »Die Abtreibung hat mein Problem gelöst. Ich dachte damals nicht viel darüber nach, jedenfalls nicht über die Abtreibung selbst. Ich war viel zu verstört; ich gestattete mir nicht, darüber nachzudenken. Aber nachdem mehrere Jahre vergangen waren, konnte ich es nicht mehr verdrängen. Die Sache kam immer wieder hoch wie ein verdorbenes Essen, von dem ich wünschte, es nie zu mir genommen zu haben.«
Die Klimaanlage schaltet sich ein und erfüllt das Haus mit einem hohlen,
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