Brennende Fesseln
nicht. Das hätte er mir doch erzählt.«
M. schweigt einen Augenblick, dann sagt er: »Nicht, wenn er sie getötet hat. Denk mal darüber nach – du kennst ihn kaum, und kurz nach Frannys Tod taucht er plötzlich wie durch ein Wunder auf und drängt sich in dein Leben.«
Ich gehe ins Arbeitszimmer, um meine Sachen zu holen. Ich bin wütend. M.s Geschichte kann unmöglich stimmen.
M. folgt mir. Immer noch nackt, lehnt er im Türrahmen und sieht zu, wie ich mich anziehe. Ich schlüpfe in meine Unterwäsche, streife mir das Kleid über und knöpfe es zu. Als letztes ziehe ich meine Schuhe an.
»Mach endlich die Augen auf, Nora. Du bist so sehr davon überzeugt, daß ich Franny getötet habe, daß du gar nicht mehr in der Lage bist, die Wahrheit zu sehen. Vielleicht willst du sie auch gar nicht sehen. Frag Ian doch, wo er an dem Tag war, an dem Franny starb.«
»Das werde ich«, antworte ich und verlasse den Raum. Wütend stürme ich aus dem Haus und knalle die Tür hinter mir zu. Draußen picken ein paar Amseln im glänzenden Gras, das von M.s Rasensprenger noch ganz feucht ist. Es ist heiß, und der Himmel sieht aus wie frisch poliert. Die Chromteile eines geparkten Wagens reflektieren das gleißende Sonnenlicht. Blinzelnd wende ich mich ab und suche in meiner Tasche nach der Sonnenbrille.
Noch nie war ich so wütend. Ich hätte wissen müssen, daß M. versuchen würde, den Verdacht von sich abzulenken, aber zu behaupten, Ian und Franny seien miteinander im Bett gewesen – das ist einfach grotesk. Sportliche Betätigung hat mir schon immer geholfen, übermäßigen Streß oder Ärger wegzubrennen, deshalb beschließe ich, in den Fitneßclub zu fahren. Ich mache zu Hause halt, um meine Sportsachen zu holen, und als ich wieder aus der Einfahrt rolle, werfe ich wie immer einen Blick auf Frannys Cadillac. Erneut fällt mir auf, daß der Wagen gewaschen werden muß. Ich überlege, wie ich fahren soll, und entscheide mich für den Mace-Covell Boulevard, eine lange Straße am Stadtrand, die die Innenstadt umgeht. Ein kräftiger Wind beugt das hohe Gras am Straßenrand.
Im Club angekommen, muß ich feststellen, daß der Pool überfüllt ist und ich mir eine Bahn mit jemandem teilen muß. Angetan mit einem schwarzen Speedo-Anzug und einer Badehaube
und einer Schwimmbrille um den Hals, stelle ich mich ans flache Ende des Beckens und beobachte die Schwimmer ein paar Minuten lang, um herauszufinden, wer der schnellste ist. Wenn ich schon keine Bahn für mich haben kann, will ich doch wenigstens sichergehen, daß ich sie mit jemandem teile, der in etwa mein Tempo hat. Zwei Frauen benutzen Schwimmbretter und spritzen Wasser in alle Richtungen, während sie gemütlich ihre Bahnen ziehen und sich dabei angeregt unterhalten. Drei andere Bahnen werden von viel zu langsamen Schwimmern blockiert, und ganz außen ist es ohnehin überfüllt.
Ich gehe zur zweiten Bahn auf der rechten Seite, wo ein junger Mann Anfang Zwanzig schwimmt. Er hat dunkles Haar und einen braungebrannten Rücken. Als er sich der gegenüberliegenden Seite nähert, setze ich meine Schwimmbrille auf. Als er wendet, tauche ich ins Wasser ein. Ich bin nur für ein paar Sekunden unter der Oberfläche, aber es ist, als tauchte ich in eine andere, ruhigere Welt, einen mit Flüssigkeit gefüllten, schoßähnlichen Innenraum, ohne Schwerkraft oder Lebenskrisen, die mich nach unten ziehen könnten. Aber als ich die Oberfläche durchbreche, zerbricht auch die Stille. M. drängt sich wieder in meinen Kopf. Zug um Zug lassen meine Arme mich vorwärts schießen, und der andere Schwimmer und ich begegnen uns auf halber Höhe der Bahn. Ich erhöhe meine Geschwindigkeit, und als wir uns wieder treffen, habe ich eine Armlänge Vorsprung. Die nächste Bahn aber endet wieder unentschieden. Erneut treffen wir uns in der Mitte, und das bleibt auch während der nächsten zehn Bahnen so. Wenn ich schneller schwimme, wird er auch schneller. Ich stelle mir vor, daß er M. ist, meine Nemesis, und daß wir ein Rennen austragen, bei dem nur einer von uns beiden die Ziellinie als Überlebender überqueren wird. Dieser Gedanke treibt mich an, und ich bin mir sicher, schneller zu schwimmen als je zuvor, aber der junge Mann kann mithalten. Ich denke an M.s
Worte – Ian war mit Franny im Bett. Frag ihn doch, wo er an dem Tag war, als sie starb –, und meine Wut kehrt zurück und treibt mich an. Als ich meine fünfzehnte Bahn beginne, bin ich fest entschlossen, einen Vorsprung
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