Brennende Fesseln
herauszuschwimmen, aber nach der sechzehnten geht mir auf, daß ich allein bin. Der junge Mann ist nicht mehr da. Ich halte einen Moment an, und im verschwommenen Gesichtsfeld meiner Brille sehe ich ihn auf das Gebäude zugehen und durch die Tür treten. Während ich weiter meine Bahnen ziehe, habe ich das Gefühl, um meinen Sieg betrogen worden zu sein. Ich werde langsamer und konzentriere mich mehr auf meinen Stil. Jeder meiner Züge ist kräftig, sicher und gleichmäßig. Ich habe das richtige Tempo gefunden, und mit der zwanzigsten Bahn verwandelt sich meine Wut in eine schwarze, nagende Frage: Was, wenn M. die Wahrheit sagt?
33
Als ich nach Hause komme, sehe ich Ians Holzschnitzerei auf der Küchentheke stehen: den Reiher aus Lindenholz, der die Flügel ausbreitet und trotz seiner Miniaturgröße – er ist knapp acht Zentimeter hoch – so detailliert und fein geschnitzt ist, daß man sofort weiß, daß es sich um das Werk eines geschickten Handwerkers handelt. Minutenlang stehe ich da und denke an das komplizierte Muster, das in Frannys Oberkörper geritzt war, ebenfalls das Werk eines Künstlers.
Ian. Ich habe einen Schlüssel zu seiner Eigentumswohnung und überlege, ob ich nach Sacramento fahren und sie durchsuchen soll. Ich weiß nicht, was ich dort zu finden hoffe – vielleicht Fotos von Franny oder etwas, das ihr gehört hat, Schmuck, Kleidung, eine Haarspange, irgend etwas, das beweisen würde, daß er sie gekannt hat. Aber in dem Moment höre ich die Haustür auf- und wieder zugehen. Ian ruft meinen
Namen, und einen Moment später betritt er die Küche, fällt mit dem ihm eigenen, ungestümen Gang in den Raum ein. Seine Schultern wirken leicht gebeugt, er hält den Kopf nachdenklich gesenkt, und er trägt noch die Sachen, die er bei der Arbeit anhatte – eine graue Hose und ein verknittertes weißes Hemd. Mit seiner Präsenz, seiner blonden Stämmigkeit, erfüllt er den ganzen Raum. Er blickt auf.
»Nora!« sagt er. Sein Gesicht hellt sich zu einem Lächeln auf. Die vollen Lippen öffnen sich und enthüllen zwei Reihen perfekt geformter weißer Zähne. »Ich habe nicht damit gerechnet, daß du zu Hause bist. Warum hast du nicht geantwortet?« In einer Hand trägt er einen Stapel Bücher, in der anderen eine Aktenmappe. Er legt alles auf den Tisch und kommt zu mir herüber, um mir einen Kuß zu geben. Für einen kurzen Moment berühren seine Lippen die meinen. Ich bin innerlich erstarrt, als hätte sich die ganze Wärme, die ich einmal für diesen Mann empfunden habe, zu etwas Hartem, Kaltem verfestigt. Ich muß mich zwingen, nicht den Kopf wegzudrehen.
Er sieht mich erstaunt an. »Was ist los?« fragt er. Endlich kann ich mich von ihm lösen. Ich gehe auf die andere Seite des Tisches, um eine Art Sicherheitsabstand zwischen uns zu schaffen.
»Du hast Franny gekannt«, sage ich in anklagendem Ton. Ich beobachte seine Reaktion. Ein Ausdruck, den ich nicht beschreiben kann, huscht über sein Gesicht. Ist es Angst, Traurigkeit, Schuldbewußtsein? Ich weiß es nicht. Aber daran, daß er Franny tatsächlich gekannt hat, läßt seine Mimik keinen Zweifel. Ich warte darauf, daß er mich anlügt. Seufzend legt er beide Hände auf die Rückenlehne eines Stuhls, läßt den Kopf sinken und starrt vor sich hin. Schließlich blickt er auf und sieht mich an.
Ruhig sagt er: »Ich wollte es dir sagen. Ich hatte nicht vor, ein Geheimnis daraus zu machen. Als sie starb, warst du so
durcheinander – es schien mir nicht der richtige Zeitpunkt für so ein Geständnis zu sein. Und in den Wochen danach hast du so zerbrechlich gewirkt, als würde dir schon die kleinste Unannehmlichkeit schwer zusetzen. Ich konnte es dir damals einfach nicht sagen. Ich wollte dich erst wieder zu Kräften kommen lassen. Aber aus Wochen wurden Monate, und irgendwann war es zu spät. Ich weiß selbst nicht, wie das passieren konnte. Eine Woche wartete ich auf den richtigen Zeitpunkt. Eine Woche später hatte ich ihn verpaßt. Deswegen habe ich irgendwann angefangen, mein Schweigen vor mir selbst zu rechtfertigen: Niemand wußte von Franny und mir; es würde auch nichts mehr ändern, wenn ich es dir erzählte; es würde die Sache nur noch schlimmer machen. Außerdem kam mir meine Nacht mit Franny immer irrealer vor, als hätte ich nie wirklich mit ihr geschlafen. Aber ich wußte natürlich, daß ich es getan hatte. Und ich schämte mich dafür, wie ich sie behandelt hatte. Ich wußte einfach nicht, wie ich dir das sagen
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