Brennende Fesseln
und nehme einen Koffer aus dem Schrank. Ich werfe ein paar Kleider hinein, ein paar Shorts und Tops, etwas Unterwäsche. Dann hole ich meine Zahnbürste und Zahnpasta und suche nach der neuen Packung Zahnseide, die ich erst kürzlich gekauft habe. Während ich packe, steigt Wut in mir hoch. Warum werde ich aus meinem Haus vertrieben? Ian sollte Unannehmlichkeiten bekommen, nicht ich. Zornig schleudere ich ein Nachthemd in den Koffer. Es ärgert mich, daß jemand so viel negative Macht über einen anderen Menschen haben kann. Jetzt bist du dran. Wie kann er es wagen, mich so einzuschüchtern! Ich möchte so gern etwas tun, selbst etwas dagegen unternehmen, auf jede mir mögliche Art dagegen ankämpfen. Ich will nicht einfach aufgeben und mich bei Maisie verkriechen.
Ich gehe in die Küche. Meine Wagenschlüssel liegen noch da, wo ich sie hingeworfen habe. An der Schlüsselkette hängen meine Minidose Tränengas, mein Wagenschlüssel, die Hausschlüssel und der Schlüssel zu Ians Wohnung. Ich habe ihm den Schlüssel noch immer nicht zurückgegeben. Plötzlich kommt mir eine Idee – etwas, das ich längst hätte tun sollen.
Unter dem Vorwand, ein bißchen plaudern zu wollen, rufe ich Maisie beim Bee an. Sie hält mich für verrückt – weil ich
Ian des Mordes verdächtige –, aber sie ist froh, von mir zu hören, und geht dazu über, mir den neuesten Klatsch zu erzählen. Ich tue so, als würden mich ihre Geschichten interessieren. Ganz nebenbei erkundige ich mich nach Ian, und sie erzählt mir, daß er heute einen Termin in San Francisco hat. Ich lege auf, fahre zum Longs Drug Store, um mir eine Packung Einmalhandschuhe aus Latex zu kaufen. Dann mache ich mich auf den Weg nach Sacramento.
Jetzt bist du dran. Die Worte hallen in meinem Kopf nach wie das klagende Echo in einem Cañon. Ich parke ein Stück von Ians Wohnung entfernt im Schatten einer Platane. In der Ferne höre ich eine Autohupe, die Sirene eines Krankenwagens, das leise Flüstern eines vorbeifahrenden Zuges. Jetzt bist du dran.
Ich öffne die Packung mit den Einmalhandschuhen. Zweifellos sind die Fingerabdrücke von meinem letzten Besuch noch in Ians Wohnung, aber falls ich irgendwelche Hinweise darauf finden sollte, daß er Franny getötet hat, möchte ich, daß auf den Beweisstücken nur seine eigenen Fingerabdrücke sind. Ich stopfe zwei von den Handschuhen in meine Tasche und steige aus.
Beim Überqueren der Straße bemerke ich einen Handwerker auf einer Leiter, der an der Ostseite des Gebäudes die Dachrinnen reinigt. Eine graue Limousine biegt in den Parkbereich der Wohnanlage ein. Ein per Fernbedienung aktiviertes Garagentor gleitet auf, die Limousine verschwindet in der Garage, das Tor schließt sich hinter ihr. Als ich den Schlüssel in Ians Türschloß stecke, rechne ich halb damit, daß er nicht mehr paßt. Aber er gleitet ohne Widerstand hinein, und die Tür läßt sich problemlos öffnen. Ich schiebe sie auf und warte, leicht vorgebeugt, ob ich irgendwelche Geräusche höre. Ich will sicher sein, daß Ian nicht zu Hause ist. Leise ziehe ich den Schlüssel aus dem Schloß. Ich fühle mich wie eine Einbrecherin, und mein Herz pocht heftig. Ich versuche mich zu beruhigen.
Genaugenommen habe ich gar nicht eingebrochen. Schließlich bin ich im Besitz eines Schlüssels. Wie kann ich da eine Einbrecherin sein?
»Haben Sie ein Problem?«
Mit einem Ruck richte ich mich auf und lasse vor Schreck meinen Schlüsselbund fallen. Als ich mich umdrehe, sehe ich den Handwerker, der sich seine Leiter horizontal unter den Arm geklemmt hat. Er ist ein grobknochiger Mann mit einem bleichen, hageren Gesicht.
»Irgend etwas nicht in Ordnung?« fragt er. Er hat einen dichten schwarzen Schnurrbart, der an den Mundwinkeln klagend nach unten hängt und seine Lippen vollständig verbirgt. Seine Worte scheinen aus dem Nichts zu kommen.
Mit einem nervösen Lachen bücke ich mich, um meine Schlüssel aufzuheben. »Nein«, antworte ich. »Ich trödle bloß ein bißchen herum. Es ist ein so schöner Tag, da mag ich gar nicht hineingehen.«
»Ich weiß, was Sie meinen«, sagt er. Sein Schnurrbart bewegt sich im Rhythmus seiner Worte auf und ab, »aber für meinen Geschmack ist es ein bißchen zu heiß. An einem solchen Tag hätte ich nichts dagegen, drinnen zu arbeiten.«
»Ja«, sage ich. »Also …« Der Mann steht da, ohne sich von der Stelle zu rühren, und ich überlege, ob ich ihm wohl verdächtig vorkomme. »Ich muß auch noch ein bißchen was tun«,
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