Brennende Fesseln
eingebildet
habe. Aber nein – wieder höre ich ein Geräusch. Der Türknauf dreht sich, die Tür schwingt auf und fällt mit einem Knall wieder zu.
Schnell lege ich die Fotos, das Klebeband, das Messer und Billys Krankenhausarmreif zurück. Als ich die Schachtel unter das Bett schiebe, höre ich in der Diele Schritte. Ich stehe auf, ziehe hastig die Handschuhe aus und stopfe sie in die Hosentasche. Jetzt kommen die Geräusche aus dem Wohnzimmer – schlurfende Schritte, ein dumpfer Knall. Jedes Geräusch klingt bedrohlicher als das vorherige. Der einzige Ort, wo ich mich verstecken kann, ist der Schrank. Oder sollte ich Ian lieber erzählen, ich sei bloß gekommen, um ihm seinen Schlüssel zu bringen? Das Radio geht an, laute Musik tönt herüber. Ich öffne die Schranktür, langsam, damit er es nicht hört, und bin schon halb im Schrank, als ein erschrockener Schrei mich herumfahren läßt. Vor mir steht Pat, die Putzfrau.
»Lieber Himmel!« sagt sie. »Sie haben mich fast zu Tode erschreckt!« Sie stellt einen grünen Eimer neben sich auf den Boden. »Ich habe nicht gedacht, daß jemand da ist. Nora, nicht wahr?«
»Ja«, sage ich, dankbar, daß ihre Nervosität die meine kaschiert. Sie wirkt größer und stämmiger, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihre Arme sind dick und bleich. »Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich hätte rufen sollen, als ich Sie hereinkommen hörte.«
Sie nimmt ein Staubtuch aus dem Eimer und wischt die Kommode ab. »Ian hat mir gar nicht gesagt, daß Sie heute hier sein würden«, sagt sie.
Langsam schließe ich die Schranktür, um Zeit zu gewinnen, mir eine Ausrede einfallen zu lassen. »Er hat nicht gewußt, daß ich komme«, sage ich und hoffe, daß er ihr gegenüber nicht erwähnt hat, daß wir uns getrennt haben. »Ich habe seine Wäsche vorbeigebracht.«
Als Pat mit der Kommode fertig ist, wendet sie sich dem
Nachttisch zu. Offenbar findet sie meine Erklärung plausibel. »Ich schätze, ich fahre jetzt besser wieder. Ich muß zurück zur Arbeit.«
Sie wirft mir ein kurzes, gedankenverlorenes Lächeln zu. Zweifellos ist sie erleichtert darüber, daß ich ihr nicht im Weg sein werde, während sie Ians Wohnung putzt. »Auf Wiedersehen«, sagt sie, und ich eile aus dem Zimmer.
Den ganzen Nachmittag versuche ich Joe zu erreichen, aber er ist nicht auf dem Revier. Abends rufe ich bei ihm zu Hause an, aber weder er noch seine Frau geht ans Telefon. Ich soll heute abend zu M. kommen, aber ich möchte vorher mit Joe sprechen und ihm sagen, was ich in Ians Wohnung gefunden habe. Vielleicht wird Frannys Mörder nun doch noch gefaßt.
Als Joe gegen neun noch immer nicht zu Hause ist, gebe ich auf. Ich werde bis morgen warten müssen. Ich nehme meine Schlüssel und beschließe, das kleine Stück bis zu M.s Haus zu Fuß zu gehen. Nach der Hitze des Tages ist die kühle Nachtluft angenehm erfrischend, und ich bin froh, daß ich nicht gefahren bin. Über mir glitzern die Sterne, und der Himmel sieht wundervoll aus, schwarz und glänzend wie ein Obsidian. Während ich die Montgomery in Richtung Westen gehe, denke ich an Franny und die Fotos in Ians Wohnung. Ich bin ungeheuer erleichtert, daß das Ganze endlich vorbei ist, daß ihr Mörder nicht länger frei herumlaufen wird.
Ein Zweig knackt. Ich drehe mich um, sehe aber niemanden. Sofort denke ich an Ian, frage mich, ob Pat ihm erzählt hat, daß ich heute in seinem Schlafzimmer war. Ich ziehe meine Schlüssel aus der Tasche und nehme den Sicherheitsverschluß von meiner Tränengasdose. Ich gehe schneller und sehe mich immer wieder um. Es ist niemand da. Ein unheimliches Gefühl beschleicht mich, die Dunkelheit erscheint mir plötzlich bedrohlich, und ich beschließe zu laufen, die Dose Tränengas fest in der Hand. Ich bilde mir ein, schlurfende
Schritte hinter mir zu hören, dann das Geräusch loser Steinchen auf Asphalt; ich laufe, so schnell ich kann. Jetzt bist du dran. Als ich den älteren Teil von Willowbank erreiche, biege ich in den Meadowbrook Drive ein. Hier gibt es keine Straßenlaternen, und ich lege noch einmal an Tempo zu, obwohl meine Lungen bereits schmerzen. Schließlich biege ich in die Almond ein. Als ich keuchend M.s Haus erreiche, bin ich schweißnaß, und feuchte Haarsträhnen kleben mir an den Schläfen und im Nacken. Vornübergebeugt ringe ich nach Luft, ohne jedoch die Straße aus den Augen zu lassen. M. sieht mich durchs Fenster und kommt heraus.
»Was ist denn los?« fragt er.
Immer noch
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