Brennende Fesseln
erzählte, daß Cheryl sich hinter seinem Rücken mit anderen Männern getroffen und wie wahnsinnig ihn das gemacht habe. Wahnsinnig genug, um sie umzubringen? Ich mustere Kirn, frage mich, wieviel ich ihm glauben kann. Ich weiß selbst nicht genau, was ich mir von diesem Besuch erhofft habe – einen Hinweis auf seine Schuld oder Unschuld, nehme ich an. Die Bestätigung, daß es richtig war, Ian an die Polizei auszuliefern. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und betrachte ihn, einen Mann, der in San Quentin fehl am Platz wirkt. Es hätte genausogut Ian sein können .
Ein Beamter mit einer Sofortbildkamera betritt den Raum. Ein paar Leute stehen auf und gehen zu dem Yosemite-Wandbild hinüber.
»Was geht da vor?« frage ich.
Kirn antwortet: »Die Besuchszeit ist fast vorüber. Der Beamte macht ein Foto von Ihnen, wenn Sie wollen. Ich habe einen Dukaten für das Bild.«
Ich sehe ihn verständnislos an. Ist ein Dukaten nicht eine Goldmünze?
»Es ist eine Art Ticket«, erklärt er. »Man bekommt das Foto nicht umsonst. Man muß vorher so ein Ding kaufen.«
Ich sehe zu, wie der Beamte mehrere Insassen mit ihren Freundinnen, Ehefrauen, Eltern und Kindern vor dem Hintergrund von Yosemite ablichtet. Was für ein seltsamer Ort, denke ich. Schließlich handelt es sich hier um lauter Mörder aus dem Todestrakt. Kirn zieht ein Ticket aus der Tasche.
»Kommen Sie, lassen wir auch ein Foto machen«, sagt er. »Ich hätte gern ein Foto von uns beiden.«
Ich werfe einen Blick in seine kalten blauen Augen und bekomme ein ungutes Gefühl in der Magengegend.
37
Am Morgen wache ich nur langsam auf. Ich bin erst nach drei Uhr eingeschlafen. Es war eine dieser unruhigen, schlaflosen Nächte, in denen ich nicht abschalten kann und jede halbe Stunde auf die Uhr sehe. Als ich schließlich doch einschlief, zogen wirre Bilder durch meinen Geist – gletscherbedeckte Felsen, Wasserfälle, weiße, geflügelte Pferde, Yosemite Valley. El Capitans Kuppel verwandelt sich in das Gesicht von Mark Kirn. Seine Augen sind himmelblau und kalt wie ein Gletscher. Dann erhebt sich Pegasus und stampft mit seinem Huf auf den Helikon, die Heimat der Musen, und ich bewundere die Bergquelle, die durch seinen Hufschlag zu fließen beginnt, doch dann sehe ich, daß nicht Wasser, sondern Blut aus der Quelle strömt. Plötzlich liege ich selbst unter dem Huf von Pegasus, und er trampelt auf mir und meinem in eine Toga gehüllten Körper herum. Anstrengende Träume.
Als ich aufwache, bin ich erschöpft, als hätte ich die Nacht durchgearbeitet. Gähnend strecke ich mich und rolle mich auf
die andere Seite. Obwohl ich mich am liebsten noch tiefer unter die Decke kuscheln würde, stehe ich auf und ziehe einen Bademantel an. In der Küche sehe ich einen weißen Umschlag auf der Theke stehen. Ich runzle die Stirn, weil ich mich nicht erinnern kann, vor dem Zubettgehen dort etwas liegengelassen zu haben. Ich habe gestern nacht weder Rechnungen bezahlt noch Briefe geschrieben. Mit zitternden Händen reiße ich den Umschlag auf. Er sieht aus wie der, den ich mit der Post bekommen habe, die Nachricht, die aus ausgeschnittenen Buchstaben zusammengesetzt war.
»Ich habe dich gewarnt – deine Zeit ist abgelaufen.«
Meine Hände zittern. Der Brief ist von Ian; es kann nur Ian sein. Er ist der einzige, der einen Schlüssel zu meinem Haus hat. Er muß letzte Nacht hier gewesen sein, während ich im Bett lag und schlief. Ich kreuze die Arme vor der Brust und umklammere mit den Händen meine Schultern. Es ist eine schützende Geste, als wollte ich mich selbst umarmen. Er hätte mich umbringen können, wenn er gewollt hätte.
Plötzlich erstarre ich. Ich habe ein Geräusch gehört. Ein scharfes Schnappen oder eine Art Klicken. Meine Fingernägel krallen sich in meine Arme. War das irgendein normales Geräusch, oder war es etwas anderes? Ist Ian noch hier? Ich halte die Luft an und lausche angestrengt. Es ist nichts zu hören.
Auf einem Tisch neben der Eingangstür habe ich eine Dose Tränengas stehen. Ich bewaffne mich damit und werfe einen Blick ins Wohnzimmer. Ich sehe hinter sämtlichen Möbeln nach, um mich zu vergewissern, daß Ian tatsächlich nicht da ist. Die Vorstellung, daß sich in diesem Moment ein Eindringling hier aufhalten und die Sicherheit meines Hauses verletzen könnte, erfüllt mich zutiefst mit Angst und Panik. Ich zögere, unschlüssig, was ich als nächstes tun soll. Schließlich schleiche ich auf Zehenspitzen den Gang hinunter. Ich
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