Brennende Fesseln
sehe im Büro nach. Langsam schiebe ich die Schranktür auf. Keiner da. Dann spähe ich ins Bad. Dort ist auch keiner. Immer noch mit
dem Tränengas bewaffnet, gehe ich ins Schlafzimmer. Mit klopfendem Herzen sehe ich unter dem Bett und in den Schränken nach. Es ist niemand da. Ian ist nicht in meinem Haus. Ich beginne mich etwas zu entspannen. Als nächstes sehe ich nach, ob die Haustür abgesperrt ist. Dann stelle ich sicher, daß auch das Garagentor und der Hintereingang abgeschlossen und sämtliche Fenster zu sind. Ich werde die Schlösser an den Türen austauschen lassen müssen. Das hätte ich längst tun sollen, gleich nachdem ich herausgefunden hatte, daß Ian mit Franny im Bett war.
Ich gehe zurück in die Küche und lese ein zweites Mal die Nachricht. Deine Zeit ist abgelaufen. Ich muß diese Nachricht unbedingt Joe Harris zeigen.
38
»Können Sie denn gar nichts tun?« frage ich Joe Harris. Ich bin auf dem Polizeirevier und sitze an seinem Schreibtisch. »Genau das gleiche ist Cheryl Mansfield passiert«, sage ich. »In ihr Haus ist er auch eingebrochen. Warum unternehmen Sie nichts dagegen?«
Er trinkt einen Schluck aus der Coladose, die auf seinem Schreibtisch steht. Trotz der Klimaanlage ist es warm in seinem Büro, die Luft scheint kaum zu zirkulieren. Joes Gesicht ist rot, er hat die Ärmel seines Hemds bis zu den Ellbogen hochgerollt. Als er die Coladose wieder abstellt, sagt er: »Geben Sie mir den Zettel.«
Ich ziehe ihn aus meiner Tasche. »Finden Sie es nicht seltsam, daß ich genauso belästigt werde wie sie und daß wir denselben Freund hatten? Finden Sie es nicht auffällig, daß Ian sowohl Franny als auch Cheryl gekannt hat und daß beide eines gewaltsamen Todes gestorben sind?«
Sein Telefon klingelt, und er nimmt ab. Während er spricht,
lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Heute scheint es ungewöhnlich ruhig zu sein, aber das liegt wahrscheinlich am Wetter. Die Sommerhitze in Davis ist gemein – heute sind es über zweiundvierzig Grad – und macht selbst den robustesten Menschen zu schaffen. Eine Frau in Uniform kommt vorbei und wirft eine braune Aktenmappe auf Joes Schreibtisch. Er beendet sein Gespräch und steht auf. »Ich muß weg«, sagt er, und schon ist er zur Tür hinaus und eilt den Gang hinunter. Ich folge ihm, verärgert, weil er mich so schnell abgefertigt hat. »Sie können also gar nichts tun?« frage ich noch einmal.
Die Hitze schlägt uns entgegen, als hätten wir eine Ofentür aufgemacht. Joe steigt in seinen Wagen und läßt den Motor an. »Es wäre gut, wenn Sie eine Weile bei einer Freundin bleiben könnten«, sagt er. »Bloß, bis wir herausgefunden haben, wer Sie belästigt. Würden Sie das für mich tun?«
Ich nicke. »Was ist mit Ian?« frage ich. »Was werden Sie seinetwegen unternehmen?«
Während er den Rückwärtsgang einlegt, sagt er: »Halten Sie sich da raus, Nora.« Dann braust er die F Street hinunter.
Ich gehe über die Straße zu meinem Wagen. Der Himmel ist wolkenlos blau, die Sonne sengend heiß – man würde nie meinen, daß schon September ist. Eine Straßenhändlerin in Karoshorts und Pullunder sitzt unter einem weißen Schirm auf einem umgedrehten Eimer und verkauft Blumen. Sie trinkt Wasser aus einer Plastikflasche, ihr Haar hängt schlaff herunter, ihre Schultern sind gebeugt. Ich steige in meinen Wagen. Während ich durch die Stadt fahre, überlege ich, bei wem ich wohnen könnte. Wahrscheinlich bei Maisie.
Als ich nach Hause komme, sehe ich in den Briefkasten: ein weiterer Umschlag ohne Absender. Ich schließe die Augen. Ich habe ein beengtes Gefühl in der Brust. Ich weiß, was in dem Umschlag ist. Ein heißer Windstoß peitscht mir mein schwarzes Haar in die Augen. Ich nehme den Brief mit ins
Haus und öffne ihn. »Jetzt bist du dran«, steht da auf weißem Papier. Genau wie bei den anderen beiden Briefen ist die Nachricht aus Buchstaben zusammengesetzt, die aus einer Zeitschrift ausgeschnitten wurden. Ich ertappe mich dabei, daß ich auf meinem Daumennagel herumkaue. Dann fällt mir auf, wie beunruhigend still es im Haus ist. Ich sehe nach, ob die Haustür verschlossen ist. Dann überprüfe ich die anderen Türen und sämtliche Fenster. Ich gehe in die Küche zurück, nehme den Brief vom Tisch und lese ihn noch einmal, dann ein drittes Mal. Jetzt bist du dran.
Die Klimaanlage schaltet sich mit einem leisen Klicken an, aber für meine empfindlichen Ohren klingt das Geräusch bedrohlich. Ich gehe ins Schlafzimmer
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