Brennende Fesseln
sage ich. »Ich habe mir gedacht, ich arbeite heute zu Hause. Da ist es ruhiger als im Büro.«
Er klemmt sich die Leiter unter den anderen Arm.
»Zu Hause schaffe ich einfach mehr«, füge ich hinzu, ehe ich in die Wohnung schlüpfe. Durch die Glaseinsätze neben der Tür beobachte ich, wie er den Gehsteig hinuntergeht und seine Leiter an der Seite des Gebäudes aufstellt. Ich drehe mich um, lehne mich gegen die Tür und seufze erleichtert. Ich werfe einen Blick auf die Uhr – es ist Viertel nach zwei – und beschließe, mich ans Werk zu machen.
Während ich den Gang hinuntergehe, fällt mir auf, wie kühl es in der Wohnung ist. Das Wohnzimmer würde mit seinen kalkweißen Wänden fast schon steril wirken, wäre da nicht das Durcheinander aus Holzblöcken, Messern und Miniaturschnitzereien auf dem Tisch. Ich gehe schnurstracks ins Wohnzimmer, ziehe meine Handschuhe an und beginne, die Schubfächer von Ians Kommode gründlich zu durchsuchen. Ich rechne eigentlich nicht damit, in einem so naheliegenden Versteck etwas zu finden, sehe aber trotzdem nach. Wie sich herausstellt, habe ich recht – ich finde bloß Socken, Unterwäsche, gefaltete T-Shirts, Pullis und Jeans. Während ich die letzte Schublade durchstöbere, muß ich daran denken, wie ich vor nur fünf Monaten M.s Haus durchsucht habe, weil ich ihn für den Mörder und Ian für meinen Retter hielt. Die Ironie des Ganzen ist mir durchaus bewußt.
Ich durchsuche den Schrank, schiebe seine Sachen beiseite, spähe in die oberen Fächer, werfe einen Blick in jede Ecke. Wieder nichts. Im Bad öffne ich die Türen sämtlicher Schränkchen und sehe auch unter dem Waschbecken nach. Nichts. Ich gehe zurück ins Schlafzimmer. Eigentlich hatte ich hier am ehesten damit gerechnet, fündig zu werden – nicht in der Küche oder im Wohnzimmer. Enttäuscht lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Ich habe in allen Schubladen nachgesehen, in beiden Nachttischen, im Schrank. Mein Blick fällt auf das Bett. Nein, denke ich, da würde er bestimmt nichts verstecken; das wäre viel zu offensichtlich. Trotzdem gehe ich hinüber, lasse mich auf alle viere nieder, ziehe die Überdecke hoch und spähe unters Bett.
Plötzlich spüre ich ein nervöses Flattern im Bauch. Dort, in der hintersten Ecke, wo man mit der Hand nicht hinkommt, steht ein Schuhkarton. Ich lege mich auf den Bauch und krieche näher, bis ich den Karton zu fassen bekomme. Ich ziehe ihn hervor und nehme den Deckel ab. Das erste, was ich sehe, sind eine halb aufgebrauchte Rolle Klebeband und Billys alter
Krankenhausarmreif. Ich starre auf das Band und den Armreif, unfähig, mich zu rühren. Erleichterung, Angst, Qual – in meinem Herzen jagt eins das andere. Ich nehme das Armband und drehe es um. Auf der Rückseite ist das Wort DIALYSEPATIENT eingraviert. Franny hatte diesen Reif immer bei sich. Sie hätte ihn nie hergegeben, schon gar nicht jemandem, mit dem sie angeblich nur eine Affäre für eine Nacht hatte.
Ich lege ihn auf den Teppich und wende mich wieder dem Karton zu. Ich finde ein kleines Messer mit gerader Klinge und einem Holzgriff. Das Messer, mit dem das Muster in Frannys Oberkörper geritzt wurde? Heftiges Unbehagen beschleicht mich und konzentriert sich in der Handfläche, in der ich das Messer halte. Hastig lege ich es weg. Ich nehme das Klebeband aus dem Karton. Darunter finde ich einen Stapel Fotos, sechs an der Zahl. Vier sind von Franny – obszöne Fotos, Nahaufnahmen von ihrem nackten Körper in verschiedenen peinlichen Stellungen. Ob er diese Bilder an dem Abend gemacht hat, an dem er sie umbrachte? Auf drei der Fotos ist ihr Gesicht nicht zu sehen, und ich könnte nicht mit Sicherheit sagen, daß es sich um Franny handelt, wenn da nicht die Hand mit dem Fingerstumpf wäre. Auf dem vierten Bild sieht man ihr tränenüberströmtes Gesicht. Sie verzieht vor Schmerz den Mund.
Die letzten beiden Fotos sind von mir – das eine zeigt mich, wie ich morgens in Bademantel und Hausschuhen in der Auffahrt stehe und die Zeitung aufhebe, das andere, wie ich in meinem Honda die Pole Line Road hinunterfahre. Ich sehe mir die Bilder von Franny noch einmal an, und mit bangem Herzen verliere ich mich in ihrem grenzenlosen Schmerz.
Klick. Klick.
Plötzlich ertönt in meinem Kopf ein Warnsignal, und ich erstarre mitten in der Bewegung. Ich habe nebenan ein Geräusch gehört, ein Klicken, als würde die Wohnungstür aufgesperrt. Reglos bleibe ich stehen und bete, daß ich mir das nur
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