Brennende Fesseln
her geworfen wie Spielzeugboote auf rauher See. Das Wasser und der Müll rauschen den Randstein entlang bis zum Gully, wo sich ein Strudel bildet, bevor der Kanal alles nach unten saugt. Es wird eine nasse Halloweennacht werden.
M. kocht heute abend für mich. Er kocht gern – und außerdem viel besser als ich. Er drückt mir ein Glas Rotwein in die Hand, und ich setze mich auf einen Barhocker und beobachte ihn. Er trägt ein Hemd, das dieselbe Burgunderfarbe hat wie der Wein. Er hat den obersten Knopf aufgemacht, und in der Küche ist es so warm, daß seine Stirn glänzt. Mit seinen schnellen, aber präzisen Bewegungen, dem über die Schulter geworfenen Handtuch und den hochgerollten Ärmeln erinnert er mich an einen dieser Gourmet-Köche aus dem Fernsehen. Auf der Herdplatte kühlt bereits eine Glasform mit Lasagne ab. Die goldbraune Käsekruste brodelt noch. Er ist dabei, den Salat fertigzumachen, und ich rieche die Knoblauchbutter auf dem Sauerteigbrot, das unter dem Grill liegt. Er wirbelt in der Küche herum, mischt das italienische Dressing unter den Salat, rettet das Brot, ehe es verbrennt, und arrangiert es auf einem Teller. Seine schwarze Hose hat eine exakte Bügelfalte und ist kein bißchen verknittert. Ich spielte mit dem Gedanken, bei M. einzuziehen. Die Vorstellung erscheint mir nicht mehr so absurd wie noch vor kurzem.
»Fertig!« sagt er und wirft das Handtuch auf die Küchentheke. Er verschwindet kurz, um die Außenbeleuchtung auszuschalten, damit wir nicht ständig von den Kindern belästigt werden, die an Halloween von Haus zu Haus ziehen. Anschließend nimmt er einen Topflappen und trägt die heiße Lasagneform und das Knoblauchbrot ins Eßzimmer hinüber. Ich folge ihm mit dem Salat und der Weinflasche. Ich habe bereits
den Tisch gedeckt, und wir lassen uns zum Essen nieder. Er sitzt an der Kopfseite des Tisches, ich neben ihm, zu seiner Rechten. Während er die Lasagne austeilt, erzählt er mir von einem seiner Studenten, einem Pianisten.
»Er hat einen unglaublichen Drang zu spielen«, sagt M. Er kostet von der Lasagne und hält mir dann den Teller mit dem Knoblauchbrot hin. »Er ist ungeheuer eifrig, aber sein Spiel ist bestenfalls mittelmäßig. Er wird nie ein großer Musiker werden.«
»Wie alt ist er, Michael?« frage ich. Michael. Es kommt mir immer noch komisch vor, ihn bei seinem Vornamen zu nennen. Das Wort klebt in meinem Mund wie ein weiches Karamelbonbon, das einem an den Zähnen hängenbleibt.
»Einundzwanzig.«
»Laß ihm Zeit. Wenn er den nötigen Antrieb hat, wird er schon noch besser.« Ich schiebe mir eine Gabel voll Lasagne in den Mund. »Großartig«, sage ich und meine die Lasagne.
»Danke«, antwortet er. Dann erscheint eine kleine Falte zwischen seinen dunklen Augenbrauen. »Seine Technik wird mit der Zeit besser werden, aber er wird nie ein großer Pianist sein. Ihm fehlt die Kreativität, die die Guten von den Großen trennt. Er versteht die Musik verstandesgemäß, aber er fühlt sie nicht.«
Lächelnd sage ich: »Immerhin hat er einen guten Lehrer.«
M. tut meine Bemerkung mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. »Das ist nichts, was man lernen kann«, sagt er. »Entweder man hat es, oder man hat es nicht. Alle Technik der Welt und sämtliche Lehrer werden ihm da nichts nützen. Er wird sich bis zu einem gewissen Grad verbessern, vielleicht sogar sehr verbessern, wenn man bedenkt, wieviel Energie er hat, aber er wird nie ein großer Musiker werden. Harte Arbeit ist einfach nicht genug.«
»Thomas Edison würde dir da nicht zustimmen. Er war der Meinung, daß Genie mehr mit harter Arbeit als mit Kreativität
zu tun hat. ›Ein Prozent Inspiration, neunundneunzig Prozent Transpiration.‹ Wenn dein Schüler nur lange genug und vor allem hart genug an seiner Musik arbeitet, wird er es wahrscheinlich schaffen.«
»Komm mir nicht mit solchen Aphorismen, Nora. Sie sind ausgesprochen banal und tendieren dazu, die Dinge zu sehr zu vereinfachen – was bedeutet, daß sie auf konkrete Situationen nur in den seltensten Fällen anwendbar sind. Meinem Schüler fehlt es an wahrem Genie, und dieses Defizit wird sich niemals durch Transpiration ausgleichen lassen. Er täte gut daran, seine Grenzen zu erkennen. Bestimmt wäre er als erstklassiger Anwalt oder Buchhalter glücklicher, statt als zweitklassiger Musiker immer mit dem Wissen leben zu müssen, daß er nie gut genug sein wird. Und er wird es immer schwerer ertragen können: Er wird nicht nur wissen, daß ihm
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