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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Reese
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erinnern kann, an welchem Tag wir dort waren. Es ist zu lange her. Er kann sich einfach nicht mehr an das genaue Datum erinnern.«
    Wie praktisch, denke ich. Schon wieder ein Verdächtiger ohne Alibi. Das Röhren eines Motors zerreißt die Stille. Im Garten nebenan fällt ein Gärtner einen Baum. Er ist mager, trägt einen gelben Helm, Stahlkappenstiefel und eine Schutzbrille. Seine Hände vibrieren. Sägemehl fliegt durch die Luft. Das Geräusch der Säge ist so durchdringend, daß es alle anderen Laute erstickt: das Pfeifen der Vögel, das Bellen der Nachbarhunde, das Brummen vorbeifahrender Autos. Der Garten scheint unter diesem ohrenbetäubenden, übermächtigen Lärm zu schrumpfen; es bleibt kein Raum für irgend etwas anderes.
    Ian seufzt. Minuten vergehen, bevor er weiterspricht. Als der Gärtner die Kettensäge ausschaltet, sagt er: »Ich war es nicht, Nora. Das solltest du eigentlich wissen. Hör auf dein Herz.«
    Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, geht er langsam zu seinem Bronco zurück. Das Sonnenlicht strömt zwischen
den Ästen der Bäume hindurch und wirft einen silbrigen Schimmer auf die Motorhaube meines Wagens. Selbst durch die geschlossenen Fenster höre ich die Baumwipfel leise rascheln und murmeln, wenn der Wind durch ihre Blätter streicht. Im Rückspiegel beobachte ich, wie Ian wegfährt. Schließlich sehe ich nur noch eines in meinem Spiegel: den schwarzen Cadillac mit seinen Heckflossen, ein Mahnmal, das mich ständig daran erinnert, wie wenig Verständnis ich meiner Schwester entgegengebracht habe.
    Einmal, als ich durch Sacramento fuhr, um irgendeine Besorgung zu machen, entdeckte ich auf der Gegenfahrbahn Franny, die gerade auf dem Weg zur Dialyseklinik war. Ich schrie und winkte, um sie auf mich aufmerksam zu machen; gerade wollte ich auf die Hupe drücken, als mich irgend etwas innehalten ließ. Sie wirkte so heiter, das Lächeln auf ihren Lippen so zufrieden, daß ich sie nicht stören wollte. Sie schien weder mich noch irgend jemanden sonst wahrzunehmen. Fasziniert beobachtete ich, wie sie vorbeisegelte. Nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, gab es nichts auf der Welt, was sie lieber tat, als in ihrem glänzend schwarzen Cadillac herumzufahren. Ich fühlte mich wie ein Eindringling, der einen anderen Menschen in einem intimen Moment stört. Am liebsten hätte ich den Kopf weggedreht und in eine andere Richtung gesehen, aber ich konnte nicht. Ich wendete und folgte ihr verstohlen. Ihr Cadillac war wie ein Wal, er schien mehr zu schweben, als zu fahren. Schwerfällig, gewichtig und aufgebläht, nahm er die ganze Breite der Fahrbahn ein. Ich hatte den Wagen nicht so groß in Erinnerung gehabt. Fast schien es, als wäre er im Lauf der Jahre gewachsen wie ein lebendiges Wesen, das mit der Zeit in die Breite geht. Obwohl zwei Wagen zwischen uns waren, konnte ich hören, wie der Cadillac sein Nahen mit einem tiefen, gleichmäßigen Brummen ankündigte. Die entgegenkommenden Wagen machten Franny Platz. Sie fuhren ganz an den Straßenrand und wichen dem Wagen
aus, als wäre er ein großer Raubfisch, und als Franny schließlich in den Klinikparkplatz einbog, parkte sie ganz hinten, auf der weißen Linie, wo ihr Wagen zwei Parkplätze in Anspruch nahm. Mit einem Zittern und einem tiefen Stöhnen kam der Cadillac zum Stehen. Franny stieg aus wie ein politischer Würdenträger aus einer Limousine: Erst streckte sie den Kopf heraus, warf einen Blick in die Runde und lächelte, ohne sich damit an jemand Bestimmten zu wenden. Erst dann folgte ihr Körper. Sie richtete sich auf, hängte sich ihre Tasche über die Schulter, stützte die Hände in die Hüften und nickte dem Wagen wohlwollend zu. Aus ihrem Gesicht strahlte die reine Freude. Ich beobachtete sie von der anderen Straßenseite aus und fragte mich, was sie wohl in diesem Wagen sah, das ihr so viel Freude bereitete. Sie sah aus, als hätte sie etwas Unbezahlbares entdeckt, etwas nicht Greifbares, eine Art Geheimrezept zum Glücklichsein. Was genau war das? Ich wollte es wissen. Worin bestand das Geheimnis?
    Aber dann fuhr ich weiter, und bald hatte ich das Ganze vergessen, weil ich mit meinen eigenen Dingen beschäftigt war. Als mir der Vorfall später wieder einfiel, mußte ich schmunzeln  – über mich selbst, weil ich sie verfolgt hatte, und über Franny, weil sie zuließ, daß ein Auto ihre Existenz definierte und bestätigte. Ich konnte diese Art von Denken überhaupt nicht verstehen. Irgendwann fragte ich sie dann, wieso

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