Brennende Fesseln
das, was er sich so sehnlich wünscht, auf ewig verwehrt bleiben wird, sondern er wird gleichzeitig mit ansehen müssen, daß andere mit dem Talent, dem Genie gesegnet sind, das ihm fehlt, und dieses Talent auch noch für selbstverständlich erachten, obwohl sie es viel weniger verdient haben als er, weil sie längst nicht so fleißig sind. Ihm steht ein Leben voller Enttäuschungen bevor.«
Ich höre eine Spur Sympathie in seiner Stimme und frage mich, ob er auch von sich selbst spricht. Schon ein paarmal bin ich mitten in der Nacht aufgewacht und habe ihn Klavier spielen hören. Einmal habe ich mich ins Arbeitszimmer hinübergeschlichen und ihn, über die Tastatur gebeugt, vorgefunden, einen gequälten Ausdruck im Gesicht, während er eine schöne, traurige Komposition spielte. Es war ein Klagelied, glaube ich. Strähnen seines dichten dunklen Haars fielen ihm in die Stirn, seine langen, eleganten Finger bewegten sich behende über die Tasten – und mir ging durch den Kopf, daß dieser Anblick schöner war als alles, was ich je zuvor gesehen hatte. Es war ein so persönlicher, intimer, leidenschaftlicher Moment, daß ich mich schnell wieder zurückzog, weil ich
mich so sehr als Eindringling fühlte. Danach blieb ich immer liegen, wenn ich seine nächtlichen Melodien hörte. M. ist sehr bekannt, aber selbst ich – die ich wenig von der Musikwelt verstehe –, weiß, daß er nicht zu den großen zeitgenössischen Musikern gehört. Ich dachte immer, daß er mit seiner Rolle als Professor zufrieden ist, aber jetzt, als ich ihn vom mangelnden Genie seines Schülers reden höre, bin ich mir plötzlich nicht mehr so sicher. Außerdem denke ich in letzter Zeit darüber nach, wo die psychologische Ursache für seinen Sadomasochismus liegt, ob vielleicht zwischen seinem Wunsch, andere zu beherrschen, und seiner Unfähigkeit, als Musiker wirklich Hervorragendes zu leisten, ein direkter Zusammenhang besteht. Er hat mir einmal erzählt, er akzeptiere seine Grenzen als Pianist, und vielleicht ist sein Sadomasochismus Teil eines komplizierten Jungschen Balanceakts – möglicherweise zwingt ihn sein Mangel an Genie, sein Mangel an Kontrolle über das ihm angeborene Maß an Talent, die absolute Kontrolle über mich zu fordern. Ich selbst bin von dieser Analyse natürlich nicht ausgenommen. Mein Balanceakt bewegt sich in die entgegengesetzte Richtung. Ich habe immer große Kontrolle ausgeübt – ich hatte in meinen persönlichen Beziehungen das Sagen, hatte beruflich große Erfolge zu verzeichnen –, vielleicht kann ich mir deswegen jetzt gestatten, mich M. freiwillig zu unterwerfen und mich dem Genuß zu überlassen, endlich einmal die Kontrolle aus der Hand zu geben.
»Wirst du es deinem Schüler sagen?« frage ich. »Daß ihm das nötige Genie fehlt?«
Ein trauriges Lächeln breitet sich auf M.s Gesicht aus, und seine Stimme klingt plötzlich weicher. »Nein«, antwortet er. »Träume zu zerstören ist nicht mein Job. Meine Aufgabe besteht darin, ihm alles beizubringen, was ich kann. Er wird schon von selbst zu dieser Erkenntnis gelangen müssen.« Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: »Wenn er auf mich zukommen und mich direkt danach fragen würde, würde ich
ihm wahrscheinlich die Wahrheit sagen. Aber er wird mich nicht danach fragen – das tut keiner.«
Ich gehe in die Küche, um den Parmesan zu holen. Es klingelt an der Tür, und ohne nachzudenken mache ich auf. Zwei kleine Jungs mit dünnen, blaugefrorenen Lippen und gelben Regenmänteln über ihren Kostümen sagen müde ihr Sprüchlein auf und halten mir zwei feuchte Kissenbezüge hin, die sie als Taschen benutzen. M. hat keine Süßigkeiten im Haus, deswegen suche ich in meiner Börse nach ein paar Münzen. Schließlich lasse ich je ein Vierteldollarstück in die Taschen der Jungs fallen. Sie trotten in ihren Gummistiefeln den Weg hinunter und hinterlassen schlammige Fußspuren vor dem Hauseingang. Draußen vor der Auffahrt stehen ihre Eltern unter einem Schirm. Der Anblick erinnert mich an die Halloweenabende, als ich selbst noch ein kleines Kind war – damals war Franny noch gar nicht auf der Welt – und von Tür zu Tür zog, um Süßigkeiten einzusammeln; mein Vater begleitete mich, ging vor jedem Haus am Randstein in die Hocke und paßte von dort aus auf mich auf. Die Leute, bei denen ich klingelte, sahen meist nur eine formlose, dunkle Masse, aus der der rotglühende Punkt einer Zigarette herausleuchtete.
Ich kehre ins Eßzimmer zurück und
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