Brennende Fesseln
habe. Ich hatte keine Ahnung, daß sie nach wie vor unter dem Verlust unserer Eltern litt. Daß sie
sich immer noch nach bedingungsloser elterlicher Liebe sehnte und verzweifelt nach einem Ersatz für sie suchte. Als sie damals zu mir kam, war sie so still und brav. Sie war immer gut in der Schule und machte mir nie irgendwelche Probleme, so daß ich glaubte, sie hätte den Tod unserer Eltern verwunden. Ich war der Meinung, daß es ihr gutginge. Ein paar Monate vor seinem Tod hatte mich mein Vater angerufen und mir erzählt, daß Franny sich sehr ungezogen benehme. Sie führe sich auf wie ein Lausejunge, sagte er damals und erwähnte einen Vorfall, bei dem es um gestohlene Fahrräder ging. Aber als sie nach Sacramento kam, war Franny sanftmütig, still und scheu. Von ungezogenem Benehmen oder Lausbubenstreichen konnte gar keine Rede sein. Sie hielt sich viel zu Hause auf, machte ihre Hausaufgaben und sah fern. Abgesehen davon, daß sie jeden Monat ein paar Pfund zunahm, wirkte sie relativ normal. Woher hätte ich wissen sollen, daß sie so unglücklich war? Ich tat mein Bestes, versuchte nach Kräften, mich um sie zu kümmern, aber mein Bestes war nicht gut genug. Das ist mir inzwischen klar.
6
An diesem Morgen treffe ich M. im Fluffy Do-nuts , einem Café im Universitäts-Einkaufszentrum, gleich gegenüber dem Unigelände. Das Fluffy’s ist in Davis schon zu einer Art Institution geworden. Es ist lang und schmal, mit Tafelglasfenstern, die auf den Safeway-Supermarkt hinausgehen, und morgens ist es wahrscheinlich der betriebsamste Ort in der Stadt. Ich weiß nicht, warum. Das Café wirkt steril – funktionell, mit strapazierfähigen Resopalnischen, laminierten Tischplatten, einer grellen Deckenbeleuchtung, einem abgetretenen Linoleumboden – aber die Dougnuts und der Kaffee sind gut, und im Lauf der Jahre hat das Café sich zu einem inoffiziellen Treffpunkt für die Einwohner von Davis entwickelt.
Ich jogge nicht – ich ziehe Aerobic vor –, aber heute trage ich einen pink und grau gemusterten Jogginganzug, um den Anschein zu erwecken, als würde ich joggen. Ich möchte, daß M. auf mich aufmerksam wird. Er soll glauben, daß wir gemeinsame Hobbys haben. Die Aufmerksamkeit eines Mannes zu erregen war noch nie ein Problem für mich, aber als ich am Morgen in den Jogginganzug schlüpfte – eine Neuerwerbung von Macy’s –, hatte ich Bedenken. Ich mußte M. unbedingt beeindrucken. Ich gab mir mit meinem Make-up besondere Mühe und war mit dem Ergebnis zufrieden. Ich habe ein nettes Gesicht, attraktiv, aber nicht schön. Allmählich beginnt man mir anzusehen, daß fünfunddreißig anstrengende Jahre hinter mir liegen – rund um die Augen zeigen sich erste Fältchen, und die Haut ist auch nicht mehr so elastisch, wie sie einmal war. Aber ich trage immer noch Größe sechsunddreißig,
auch wenn ich sechs Tage die Woche im Studio trainieren muß, damit das so bleibt. Mein Haar ist pechschwarz – noch keine Spur von Grau zu sehen –, mein Körper straff, mein Po fest, und meine Brüste wippen noch. Insgesamt sehe ich recht gut aus, und als ich heute morgen mein Styling für M. abgeschlossen hatte und einen Blick in meinen großen Spiegel warf, war ich zufrieden mit dem, was ich sah – eine attraktive Frau Mitte Dreißig, groß und sportlich, auf eine erotische Art durchtrainiert. Ich schalt mich selbst, weil ich überhaupt Bedenken gehabt hatte. M. sollte eigentlich kein Problem für mich sein.
Durch das Tafelglasfenster sehe ich ihn im hinteren Teil des Fluffy’s sitzen. Er liest Zeitung und trinkt Kaffee. Ich betrete das Gebäude und stelle mich am Ende der Schlange an. Es herrscht ziemlicher Lärm. Um mich herum unterhalten sich die Leute lautstark, die beiden Mädchen hinter dem Tresen tippen Doughnut-Bestellungen ein, und es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Nachdem ich meinen Kaffee bezahlt habe, sehe ich mich suchend um und tue so, als wäre ich verärgert, weil kein Tisch frei ist. Dann steuere ich auf M. zu. Ich weiß nicht, wieso Franny sein Aussehen so einschüchternd fand. Er scheint tief in Gedanken versunken, während er in aufrechter Haltung und mit ernster Miene die Zeitung liest. Er ist dunkelhaarig, gutaussehend, wenn man den Typ mag, mit sehnigen Muskeln, dunkler Haut und einem kantigen Gesicht, das von einem Bildhauer gemeißelt sein könnte – ausgeprägtes Kinn, hohe Wangenknochen, eine lange, gerade Nase. Aber er geht auf die Fünfzig zu, und das sieht man ihm an.
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