Brennende Fesseln
Seine Stirn ist von tiefen Furchen durchzogen, und rund um die Augen haben sich bleibende Fältchen eingegraben. Er sieht vornehm aus, wie ein Professor, und für Davis ist er zu gut angezogen. Davis ist eine lässige Stadt: Die Leute fahren mit dem Rad, wählen die Demokraten, tragen Birkenstock-Sandalen oder Tennisschuhe. Alle Gäste im Fluffy’s sind leger gekleidet.
Man sieht vor allem Jeans, Jogginghosen und verknitterte Jacken. Sogar die älteren Leute tragen lässige Freizeitklamotten. Aber M. wirkt irgendwie … britisch. Er hat ein braunes Sakko und eine hellbraune Hose an – eigentlich nichts Besonderes, aber an ihm sieht beides wie maßgeschneidert und ein bißchen steif aus. Er hat die gepflegte Erscheinung eines Landbesitzers und wirkt, um es mit Frannys Worten auszudrücken, wie aus dem Ei gepellt.
Als ich mich seinem Tisch nähere, sehe ich, daß er den Wirtschaftsteil des Bee liest. Der Rest der Zeitung ist über den Tisch verteilt, seine Kaffeetasse ist fast leer. Ich stelle fest, daß ich nervös bin.
»Wenn ich Ihnen Kaffee nachschenke, kann ich mich dann zu Ihnen an den Tisch setzen?« frage ich.
Er blickt von seiner Zeitung auf, legt den Kopf schief und lächelt leicht.
»Es ist kein Tisch mehr frei«, füge ich erklärend hinzu.
»Natürlich«, sagt er und räumt eine Seite des Tisches ab. »Setzen Sie sich.«
Ich stelle meinen Kaffee ab und gehe zurück zur vorderen Theke, wo zwei Kaffeekannen und eine Kanne mit heißem Wasser auf Warmhalteplatten bereitstehen. Ich nehme eine der Kaffeekannen, kehre damit an seinen Tisch zurück und schenke ihm nach. Auf dem Rückweg zur Theke schenke ich noch mehreren anderen Gästen nach. Im Fluffy’s macht man das so: Man bedient sich selbst und die anderen. Ich setze mich zu ihm an den Tisch.
»Schöner Morgen, finden Sie nicht auch?« Die Luft draußen ist kühl und frisch, das perfekte Wetter zum Joggen – wenn ich joggen würde.
Hinter mir hustet ein Mann und raschelt mit seiner Zeitung. M. trinkt seinen Kaffee, betrachtet mich über den Rand seiner Tasse hinweg.
»Ja«, sagt er schließlich. »Es ist ein schöner Morgen.« Er
stellt mit einer kalkulierten Bewegung seine Tasse ab, lehnt sich in seine Nische zurück und scheint darauf zu warten, daß ich etwas sage. Ich stelle mich vor. Ich erzähle ihm, daß ich Colleen heiße, was zufällig mein zweiter Vorname ist. Meinen Nachnamen verrate ich ihm nicht.
»Colleen«, wiederholt er mit einem amüsierten Glitzern in den Augen. Wir reden über das Wetter, unser gemeinsames Hobby, Joggen, die Schlagzeilen auf der Titelseite. Er erzählt mir, daß er an der UCD Musik unterrichtet; ich erzähle ihm, daß ich mich auf physikalische Chemie spezialisiert habe und gerade an einem Projekt arbeite, bei dem untersucht wird, welche Auswirkungen es auf Länge und elektrische Ladung der DNA hat, wenn man sie der Elektrophorese aussetzt.
»Für sich genommen«, erkläre ich, »bringt das Projekt nicht viel. Trotzdem ist es ein weiteres Teilchen im großen Puzzle. Am meisten werden diejenigen davon profitieren, die im Moment damit beschäftigt sind, fluoreszierende Moleküle für die nächste Generation der Sequenztechnologie in der Humangenetik zu entwickeln. Von einem grundsätzlichen, allgemein-wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, wird meine Arbeit außerdem für die Theoretiker interessant sein, die im Bereich der Elektrophorese arbeiten.«
M. sieht mich mit einem Ausdruck milden Interesses an. Er nickt zu meinen Worten, als wüßte er, wovon ich rede. Der Anflug eines Lächelns huscht über sein Gesicht. Ich frage mich, ob ich mir das nur eingebildet habe.
»Soweit ich weiß, bin ich die erste, die systematisch die elektrische Ladung der DNA verändert und dann untersucht hat, inwiefern sich das auf die Beweglichkeit der DNA in agarosen Gelen auswirkt.« Das ist natürlich alles korrekt, aber eine Lüge. Ich eigne mir gerade das Leben eines Wissenschaftlers an, den ich vor mehreren Jahren interviewt habe. Ich hoffe, M. wird nicht nachhaken – was er auch nicht tut. Er trinkt seinen Kaffee aus.
»Ich bin froh, daß heute morgen alle Tische besetzt waren«, sagt er. »Es war nett, mit Ihnen zu plaudern.« Er nimmt seine Zeitung, legt die einzelnen Teile wieder ineinander und faltet sie in der Mitte. »Ich würde unsere Unterhaltung gern fortsetzen«, fügt er hinzu, »aber ich muß leider gehen. Ich habe um neun ein Seminar.« Er schweigt einen Moment, sieht mich quer über den Tisch
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