Brennende Fesseln
kühles Holz. Ein Eßzimmerstuhl. Nun, da sie saß, fühlte Franny sich etwas sicherer und begann sich zu entspannen. Sie spürte Michaels Hände, die ihre Schultern und ihren Hals massierten. Dann nahm er ihre Arme und zog sie sanft hinter die Stuhllehne.
»Leg die Handgelenke übereinander«, sagte er, »und halt sie ruhig.«
Einen Augenblick später spürte sie, wie er ihre Handgelenke aneinanderfesselte. Ihre Angst kehrte zurück.
»Michael«, sagte sie wieder, aber wie zuvor legte er seine Finger auf ihre Lippen.
»Ich möchte nicht, daß du sprichst«, sagte er, ehe er seine Finger wieder wegnahm. Sie hörte ihn aus dem Zimmer gehen. Panik stieg in ihr auf. Wie konnte er sie jetzt allein lassen? Sie versuchte, die Handgelenke zu bewegen. Die Fessel war zu fest. Sie konnte sich nicht befreien. Was, wenn er sie hier stundenlang sitzen ließ? Was, wenn er das Haus verließ, wenn ein Feuer ausbrach und sie nicht fliehen konnte? Sie ermahnte sich, sich zu beruhigen – ihre Phantasie ging mal wieder mit ihr durch. Wahrscheinlich war er im Raum und sah sie an. Plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Sie setzte sich aufrechter hin. Dann schoß ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf: Was, wenn jemand anders sie beobachtete? Unruhig zappelte sie auf ihrem Stuhl herum, am liebsten hätte sie nach Michael gerufen. Wie lange saß sie schon hier? Ein leises Donnergrollen drang an ihr Ohr. Das Geräusch beruhigte sie. Vorher war ihr der Donner bedrohlich, ja fast unheilvoll vorgekommen, aber jetzt half ihr das vertraute Geräusch, sich wieder zu fangen.
Nach einer Weile – sie wußte nicht, wieviel Zeit inzwischen vergangen war – hörte sie Schritte. Sie wandte den Kopf nach links und lauschte aufmerksam. Als plötzlich etwas über ihren Oberschenkel strich, zuckte sie erschrocken zurück. Beinahe hätte sie geschrien.
»Spreiz die Beine«, hörte sie eine Stimme sagen. Es war Michaels Stimme, und vor Erleichterung hätte sie am liebsten geweint oder gelacht – sie war sich nicht sicher, was von beidem. Sie hatte das Gefühl, daß er vor ihr kniete.
»Spreiz die Beine«, wiederholte er, diesmal in strengem Ton.
Sie öffnete sie ein wenig. Er legte die Hände an die Innenseite ihrer Knie und spreizte sie weiter. Selbst mit verbundenen
Augen wußte sie, wie sie ohne Schambehaarung aussah: völlig entblößt und verwundbar, die Schamlippen auseinandergezogen, klaffend wie eine Wunde.
Er nahm ihr rechtes Fußgelenk und zog es an die Außenseite des Stuhlbeins. Sie spürte, wie er ihr Bein am Stuhl festband. Das Seil legte sich stramm um ihre Haut. Dann band er ihr linkes Bein fest. Ihr Herz schlug schneller, sie fühlte das Pochen in der Brust, und ihr Atem kam in kurzen, angstvollen Stößen. Sie versuchte, ihre Beine nur ein klein wenig zu schließen, aber es ging nicht. Die Fesseln saßen zu fest.
Michael legte eine Hand an die Innenseite ihres Oberschenkels und packte so fest zu, daß sie zusammenzuckte. »Du bist sehr ungezogen«, sagte er. »Ich habe dir doch verboten, den Morgenrock zu tragen.«
Franny spürte, wie sich ihr Magen vor Schreck verkrampfte. An den Morgenrock hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht.
»Du wirst schon noch lernen, genauer auf meine Anweisungen zu achten«, erklärte er ihr. »Ich werde dich jetzt bestrafen. Du mußt lernen, meine Befehle zu befolgen.«
Franny spürte die Seile, die ihre Beine gespreizt hielten. Eine Welle der Panik lief durch ihren Körper.
»Bitte, Michael«, sagte sie, »nicht…« Aber in diesem Moment stopfte er ihr einen Knebel in den Mund, und ihre Worte waren nicht mehr zu verstehen.
ZWEITER TEIL
NORA
Bevor ich weitererzähle …
Inzwischen scheint mir der Zeitpunkt gekommen, M. kennenzulernen. Ich habe mir alles angeeignet, was aus Frannys Tagebuch zu erfahren war; jetzt ist es an der Zeit, mich direkt mit dem Mann auseinanderzusetzen. Ich wünschte, ich könnte die Finger von der Sache lassen, aber eine undefinierbare Kraft treibt mich voran. Franny hat geschrieben, daß sie sich instinktiv von ihrer natürlichen Umgebung angezogen fühlte. Ich fühle mich auch angezogen, aber nicht von der Natur, sondern von Franny – ihrem heimlichen Leben, ihrem Tod, dem Geheimnis, das ihr Sterben umgibt. Ich muß dieses Geheimnis unbedingt lüften. In der Hinsicht bin ich wie die Leute, die hinter Feuerwehrautos herjagen und sich den Hals verrenken, um einen Blick auf ein Unfallopfer werfen zu können: Ich habe ein starkes Bedürfnis nach Wissen. Ob ich
Weitere Kostenlose Bücher