Brennende Fesseln
Es gibt hier keine Gehsteige, deswegen gehen wir am Straßenrand. Hie und da kicken wir ein paar Kieselsteine vor uns her. Im Garten eines Nachbarn wiegen sich gelbe Dahlien mit rosa Blütenrändern in der sanften Brise, und irgendwo in den Bäumen pfeift ein Vogel. Durch die Baumwipfel sehen wir eine orangefarbene Sonne tief über dem Horizont hängen. Bald wird es dunkel werden.
M. nimmt meine Hand. Er trägt hauchdünne Handschuhe, was mir seltsam vorkommt, weil es nicht besonders kalt ist. Zwei Jungen, die mit ihren Fahrrädern mitten auf der Straße fahren, zischen an uns vorbei.
»Trägst du immer Handschuhe?« frage ich.
»Fast immer. Jedenfalls immer, wenn ein Hauch von Kälte in der Luft liegt. Meine Hände werden schnell rauh.« Mit einem Blick auf mich fügt er hinzu: »Du möchtest doch nicht, daß ich rauhe Hände habe, oder, Nora? Bei dem, was ich vorhabe, brauche ich zarte Hände.«
Beinahe hätte ich ihn gefragt, was er vorhat, aber dann sage ich mir, daß er nur Spaß macht. Hand in Hand gehen wir weiter. Gegen meinen Willen muß ich daran denken, daß Franny von dieser Hand ermordet worden ist.
Wir kommen an einem Haus vorbei, vor dem ein kleiner, selbst angelegter Teich glitzert. Bläulichgraue durchscheinende
Insekten schlittern über das Wasser. Ein leichter Windstoß, der den süßen Duft von Jasmin zu uns herüberträgt, jagt kleine Wellen über den Teich.
»Erzähl mir etwas über Franny«, sage ich.
Ohne zu zögern, antwortet er: »Sie war absolut ehrlich. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, einen Mann mit einem anderen zu betrügen.«
Ich senke den Kopf und seufze. Es ist ein weiches, reumütigen Seufzen, das M. glauben macht, ich würde von Schuldgefühlen geplagt. Aber für mich ist es die einzige Möglichkeit, nicht laut herauszuplatzen. Er ist der letzte Mensch auf der Welt, der mir einen Vortrag über Ehrlichkeit halten sollte. Das Zirpen einer Grille zerreißt die Stille.
»Du wirst es nicht lange durchstehen, zwei Beziehungen gleichzeitig zu haben. Vergiß Ian – er hat nicht, was du brauchst.«
Ich höre die Eifersucht in seiner Stimme und nehme mir vor, sie zu meinen Zwecken zu nutzen. Wieder sage ich nichts, sondern seufze bloß ein bißchen, damit er glaubt, ich sei beunruhigt. Der untere Teil der Sonne verschwindet, und lange, rot geflammte Spiralen werden sichtbar, die den Horizont wie mit einer Borte aus sich kringelnden Fäden säumen. Im Zwielicht der Dämmerung wirkt die Straße abgeschlossen und geschützt, fast wie von Mauern umgeben. Sämtliche Büsche, Bäume und Rasenflächen nehmen im diffusen Licht der untergehenden Sonne einen gräulich-grünen Farbton an.
Hand in Hand beenden wir unseren Spaziergang. Gelegentlich berühren sich unsere Schultern. Als wir wieder zu Hause sind, geht M. in die Küche und stellt einen Topf Wasser auf den Herd. Ich sehe ihm zu, wie er an der Theke herumhantiert, zwei Tassen bereitstellt, zwei Teebeutel aus dem Schrank nimmt und mit dem kochenden Wasser übergießt.
»Ich bin gleich zurück«, sagt er und verschwindet. Als er zurückkommt, hat er eine Zeitschrift in der Hand.
»Deine Hausaufgabe«, sagt er und drückt mich auf einen Stuhl am Küchentisch. Er schlägt die Zeitschrift auf Seite zwanzig auf, und ich lese die Überschrift des Artikels: »Fisting, Teil 1: Die Möse.«
Ich lege das Heft auf den Tisch. »Vergiß es«, sage ich. »Völlig unmöglich. Du wirst nie deine ganze Hand in mich hineinbekommen.«
Er legt seine Handfläche auf meine Schulter. »Wir müssen es ja nicht gleich heute nacht machen«, sagt er. »Auch nicht nächste Woche. Lies einfach mal den Artikel. Lern ein bißchen was darüber, und versuch, für alles offenzubleiben.«
Ich sehe mir die Fotos an. »Ich bin zu eng. Du würdest mich zerreißen.«
»Lies es«, sagt er, bringt mir eine Tasse Tee und geht.
Ich rufe ihm hinterher: »Das ist aber auch alles, was ich tun werde!« Langsam trinke ich meinen Tee, ohne einen Blick in die Zeitschrift zu werfen. Ich frage mich, ob das auch eine der Sachen ist, die er mit Franny gemacht hat. Ich habe meine Tasse fast ausgetrunken, als ich mich wieder den Fotos zuwende. Eine Frau hat sich auf alle viere niedergelassen, und eine andere Person – schwer zu sagen, ob es ein Mann oder eine Frau ist – kauert hinter ihr, eine Hand in ihrer Vagina. Ich fange an, den Artikel zu lesen, aber es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich lese den ersten Abschnitt noch einmal und gähne – irgendwie
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