Brennende Kälte
sie will nicht, dass ihr Vater hier aufkreuzt.«
»Da hat sie vollkommen recht«, sagte einer, aber immerhin rückte er ein bisschen näher zu seinem Kumpel auf, sodass Dengler nun vor allen Blicken geschützt war.
Plötzlich, unvermittelt und laut setzte die Musik ein, einige Takte, die Dengler bekannt vorkamen. Es dauerte eine Weile, bis er sie erkannte. Es war das Intro von In-A-Gadda-Da-Vida von Iron Butterfl y. Fast hätte er protestiert – das war doch seine Musik. Wieso kannte das junge Gemüse dieses Lied? Sie klatschten alle laut, die vier Jungs vor ihm rissen die Arme hoch, streckten dabei drei Finger in die Höhe.
Der Song brach unvermittelt ab und ging über in einen Rap. Dengler konnte den Text nicht verstehen. Er erhob sich ein Stück. Holzer stand noch immer an der Bande.
Auf der Bühne beendete die Band den ersten Song. Frenetischer Applaus. Dann rappten sie erneut.
Wenn der Vorhang fällt sieh hinter die Kulissen
Die Bösen sind oft gut und die Guten sind gerissen
Geblendet vom Szenario erkennt man nicht
Die wahren Dramen spielen nicht im Rampenlicht
Das war der Song, den Jakob ihm auf seinem iPod vorgespielt hatte.
Der Sänger war ein schmaler junger Mann mit Baseballmütze.
»Max, komm runter von der Bühne und mach mir ein Kind«, kreischte es hinter Dengler.
Erschrocken drehte er sich um. Drei Mädels schrien die Aufforderung erneut und schüttelten sich dann vor Lachen. Sie waren kaum älter als fünfzehn.
Die Band setzte wieder ein.
Nass bis auf die Haut, so stand sie da
Um uns herum war es laut und wir kamen uns nah ...
Anna wie war das da bei Dada
Du bist von hinten, wie von vorne A-N-N-A
Alle in dem Stadion, außer Dengler, schienen den Text zu kennen. Aus mehreren Hundert Kehlen klang es:
Du bist von hinten, wie von vorne A-N-N-A
Dengler erinnerte sich an ein Gedicht von Kurt Schwitters, das er als junger Mann gemocht hatte. Wie hieß es noch? An Anna Blume.
Unddu, du Herrlichste von allen,
Du bist von hinten wie von vorne:
A-----N-----N-----A.
Anna Blume, du tropfes Tier,
Ich-----liebe-----Dir!
So oder so ähnlich hatte das Gedicht gelautet. So lange her! Für einen Augenblick nur hatte er sich dem Text und dem Rhythmus des Liedes überlassen. Als er aufsah, war Klaus Holzer verschwunden.
Dengler fluchte und schob sich durch die singenden Teenager zum Ausgang. Dort blieb er schwer atmend stehen. Er sah sich um und erkannte den Rücken Holzers, der gerade um die Ecke verschwand. Dengler spurtete los.
Klaus Holzer ging mit langen Schritten zurück zum Parkplatz.
Nun war sich Dengler sicher: Das Hip-Hop-Konzert war für Holzer eine Schleuse gewesen, um Verfolger abzuhängen.
Doch er konnte nicht einschätzen, ob Holzer ihn gesehen hatte.
Als er die Ecke erreichte, hinter der seine Zielperson verschwunden war, fiel er in einen schnelleren Schritt. Zwanzig Meter vor sich sah er die hoch aufragende Gestalt seiner Zielperson, die in weit ausgreifenden Schritten zurück zum Parkplatz eilte. Dengler blieb in gleichbleibendem Abstand hinter ihm. Da es mittlerweile dunkel war, hoffte Dengler, dass er nicht bemerkt worden war.
Auf dem Parkplatz, unmittelbar neben dem Weg zum Eingang des Fernsehturms, blieb Holzer stehen. Dengler sah, dass er auf die Uhr schaute. Er schien auf jemanden zu warten. Dengler schlenderte über den Parkplatz in Richtung seines Stadtmobils und behielt Holzer im Auge.
Plötzlich glitt ein dunkler Kastenwagen heran und hielt neben Holzer. Dengler hörte eine schwere Wagentür klacken, dann fuhr der Wagen weiter. Holzer war eingestiegen. GeorgDengler rannte zum Auto und ließ sich hinter das Steuer fallen. Er startete den Wagen. Doch als er losfahren wollte, war der dunkle Wagen bereits verschwunden. Dengler fluchte.
Er würde warten müssen. Noch immer stand Holzers Wagen auf dem Parkplatz. Er legte seine Kamera neben sich auf den Beifahrersitz.
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11. September 2001: Erlangen, Katharina Petrys Wohnung
Die meisten Menschen erinnern sich an diesen Tag. Viele können sogar genau erzählen, wann und wie sie die Nachricht von den Angriffen auf New York und Washington erhalten haben. Katharina Petry arbeitete an diesem Tag zu Hause. Sie war beim Lesen auf dem Sofa eingeschlafen, als ihre Mutter anrief.
»Kind«, schrie sie aus dem Hörer. »Es gibt Krieg! Amerika wurde angegriffen.«
Im ersten Augenblick dachte sie, ihre Mutter habe zu viel getrunken. Das wäre nicht der erste Anruf, bei dem sie sich mit unsicherer Aussprache bei ihrer
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