Brennende Kälte
Tochter gemeldet hätte. Sie lebte allein in Mülheim an der Ruhr in einer idyllischen Villa, aus der vier Jahre nach ihrer Geburt Katharinas Vater und dann, sofort nach dem ersehnten Abitur, sie selbst geflohen war.
Doch diesmal schien ihre Mutter nüchtern zu sein, in ihrer Stimme lag der ihrer Tochter wohlvertraute panische Unterton.
»Amerika wurde angegriffen«, schrie sie ins Telefon. »Die Zwillingstürme brennen.«
Dann hörte sie ihre Mutter schluchzen.
»Es gibt bestimmt Krieg ...«
Und trotzig, als sie spürte, ihre Tochter glaubte ihr kein Wort: »Mach sofort das Fernsehen an. Da kannst du es sehen.«
Mit der Linken fischte Katharina Petry die Fernbedienung vom Tisch und schaltete auf CNN. Sie sah den ersten Jet in den Turm rasen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Fasziniert beobachtete sie die Endlosschleife des Senders, konzentriert wie bei einer buddhistischen Übung. Sie drehte den Ton ab. Wieder Anflug, Einschlag, Explosion. Anflug, Einschlag,Explosion. Anflug, Einschlag, Explosion. Ihr Hirn leerte sich. Sie legte sich auf den Teppich vor dem Fernseher und starrte auf den Bildschirm. Anflug, Einschlag, Explosion. Es wird Krieg geben, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Anflug, Einschlag, Explosion.
Im Nachhinein hätte sie nicht sagen können, wie lange sie vor dem Fernseher gelegen und dem Inferno zugesehen hatte. Erst allmählich kehrten ihre Gedanken zurück. Mit der Stimme ihrer Mutter: Es wird Krieg geben. Sie hatte recht. Es wird Krieg geben. Gegen wen, konnte sie sich noch nicht vorstellen, aber es war klar, dass die USA antworten würden.
Es würde Krieg geben. Und wir werden uns nicht heraushalten können, dachte sie. Nach dem Gespräch im Bundeskanzleramt hatte sie von der Bundesregierung nichts mehr gehört.
Plötzlich stand es mit klaren großen Lettern vor ihrem inneren Auge: Das ist die Gelegenheit.
Trunken wie eine Schlafwandlerin stand sie auf und nahm das Telefon wieder in die Hand. Durch die großen Fensterscheiben blickte sie auf Erlangen hinunter. Sie wählte die Nummer ihres Chefs.
»Ja, guten Tag, Herr Dr. Kuhnert, Petry hier ... Ja, habe ich. Entsetzlich. Ich sehe es auf CNN. Ah, Sie auch. Wissen Sie, ich denke über die Folgen nach. Für Deutschland. Und uns, den Konzern. Es wird große Veränderungen geben ... Ja, da haben Sie ganz recht. Deutschland muss jetzt an der Seite der Amerikaner stehen. Sie brauchen unsere uneingeschränkte Solidarität. Aber das ist für den Konzern die Gelegenheit. Ich denke an unser Projekt. Wir haben keine Fortschritte erzielt im politischen Bereich. Aber jetzt...«
Als sie auflegte, wunderte sie sich, wie schnell er begriffen hatte, dass dies eine Chance war, die sich dem Konzern so schnell nicht wieder bieten würde. Sie hielt Dr. Kuhnert für nicht sehr intelligent, und sie selbst würde sicher viel besser den Bereich Defense im Vorstand vertreten können. Aberdazu musste Delta III sich endlich in einem Echtzeiteinsatz bewähren.
»Ja. Kuhnert hier. Bitte geben Sie mir doch Professor Schmiederer ... Ja. Trotzdem. Es ist wichtig ... Ja, danke. – Gerhard? Guten Morgen, Michael hier. Du bist im Bilde? ... Ja, ganz schrecklich ... Auf keinen Fall! Deutschland muss seiner Verantwortung gerecht werden. Weißt du schon irgendetwas aus Berlin? ... Mmh. Für uns, also unseren Bereich ... Ja, ich habe mit der kleinen Petry telefoniert. Ja, die Ehrgeizige. Die mit der Fliege, die uns alle mal beerben will. Der habe ich Beine gemacht. Das ist die Gelegenheit für ihr Delta-III-Pro-jekt. Wir haben so lange nichts mehr gehört aus Berlin ... Ja, das Berliner Büro ist dran ... Aber die Karten werden jetzt neu gemischt. Ich habe da drei Projekte, die wir zur Verfügung stellen können. Ja. Genau ...«
»MensSys AG. Büro von Herrn Prof. Dr. Schmiederer. Ich habe ein dringendes Telefonat für den Staatsminister Herrn Dr. Steinmüller. Ja. Selbstverständlich. Ich glaube, es ist sehr dringend.«
»Schmiederer. Guten Tag, Herr Staatssekretär. Sie haben bestimmt jetzt einiges um die Ohren. Ich will Ihnen die Unterstützung der MensSys AG zusichern, was immer Sie jetzt beschließen. ... Nein, das ist doch selbstverständlich. Sie haben unsere uneingeschränkte Solidarität. Das geht doch uns alle ... Wie will die Bundesregierung denn auf diese Scheiße reagieren, entschuldigen Sie den Ausdruck. Wir müssen da jetzt dabei sein ... Sie erinnern sich noch an unser Angebot der Entwicklung von Delta III. Das ist jetzt aktuell.«
Für Katharina Petry waren
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