Brennende Kontinente
Seelenstimme matt und gebrochen. »Hilf mir, Bardric...«
Lodrik griff mit einer Hand nach ihr und schlang ein unsichtbares Band um sie. Ohne eine Erklärung stand er auf und verließ den Saal, rannte durch den Korridor in einen abgelegenen Teil des Palastes. Dann eilte er all die Treppen hinauf, bis er den Dachboden erreichte. Hier hatte sich die Vergangenheit der Dynastie in verschiedenen Formen versammelt: Alte Gemälde, ungeliebte Möbel, hässliche Vasen und alles, was seine Familie nicht mehr hatte sehen wollen, warteten verhüllt und verborgen auf eine neue Entdeckung.
Lodrik warf sich auf einen Sessel im dunkelsten Bereich der Kammer und löste die Fessel, mit der er Soscha mit sich gezogen hatte. Ihr Zustand hatte sich verschlimmert, und das musste von einer besonderen Art von Angriff herrühren. Angriffe, die außer ihm nur eine weitere Person auf diesem Kontinent zu führen in der Lage war.
»Wo ist sie?«, verlangte er von Soscha zu wissen.
»Ich vergehe. Tu etwas dagegen, Bardric.« Die Ränder der Sphäre zerflossen, kleine Tröpfchen lösten sich aus dem Gebilde und zerplatzen, sobald sie sich weiter von der Kugel entfernten. Er musste rasch handeln. Lodrik wickelte den Ärmel seiner Robe auf und fügte sich mit dem Nagel seines linken Daumens einen kurzen, aber tiefen Schnitt zu. Es dauerte, bis sich das kostbare Nekromantenblut zeigte. »Komm her und trinke davon. Es wird dir helfen«, lud er sie zum Mahl ein. Die Seele leuchtete schwach auf. »Ich soll davon trinken? Was wird das Blut mit mir tun?«
»Du wirst stärker, Soscha. Ich gebe dir einen Teil meiner Kraft, und du wirst es lieben.«
»Nein.«
»Dann vergehe für immer. Zvatochna hat dich berührt und dich beinahe vollständig vernichtet. Es gibt nichts, was dich retten könnte.« Er hielt ihr anbietend den Unterarm entgegen, wo ein dicker Tropfen hervorquoll und langsam zur Seite sickerte. Seine weiße Haut ließ das Rot schimmern. »Außer meinem Blut.«
Soscha schrie auf, leise und weit entfernt, wie aus einer Schlucht oder einem unendlichen Abgrund. Der Zersetzungsprozess schritt voran.
»Dir bleibt kaum mehr Zeit. Entscheide dich schnell.«
Lodrik betrachtete den wandernden Tropfen, der eine Bahn
über seinen Arm zog.
Sie stieß unvermittelt nieder wie ein Raubvogel auf eine Maus, und der Blutstropfen verschwand. Dafür leuchtete die Kugel auf, Soscha stieß ein überraschtes Lachen aus. »Bei Ulldrael!«, rief sie und klang berauscht. »Was geht mit mir vor? Als hätte ich Kraft wie tausend.« Sie nahm ihre menschliche, durchscheinende Gestalt an, ihre Augen legten sich auf Lodrik. »Das Gefühl, das mich durchströmt, ist unglaublich!«
»Es wird eine Weile anhalten«, schätzte er und drückte die Wunde zusammen, damit der Schnitt verheilte. »Berichte
mir.«
»Kann ich mehr bekommen?«, fragte sie gierig und strich um ihn.
»Nein.« Er deutete auf den Boden vor sich. »Bleib stehen und erzähle, Soscha!«
Sie gehorchte mit einem neckenden, überschwänglichen Lachen, wie es Betrunkene gern ausstießen.
»Ich kam in die Stadt, diese schreckliche Stadt, in der die Toten überall herumlagen.« Die Erinnerung ließ sie ernst werden. »Viele Tzulandrier waren schon tot, als ich die Mauern erreichte, andere bäumten sich vergebens gegen ihr Schicksal auf. Seelen schössen durch die Gassen und Straßen, jagten alles Lebendige und löschten es aus. Etliche Tzulandrier hatten sich sogar auf die Dächer geflüchtet, andere verendeten zuckend auf dem Pflaster. Ich nehme an, Zvatochna hat sie vergiftet. Keine der Seelen bemerkte mich, ich hatte genügend Zeit, mich in dem Durcheinander umzusehen.« Sie schaute auf ein verhülltes Bild. »Ich dachte bis jetzt, du seiest das Grausamste, was mir untergekommen ist. Deine Tochter schlägt dich, Bardric. Sie
schlägt dich um Längen.«
»Sie kommt mehr nach ihrer Mutter, fürchte ich.«
Soscha schüttelte den Kopf. »Nachdem alles vorüber war, befahl sie den Seelen, die Leiber der Toten zu öffnen, damit das Blut herausläuft. Es floss in breiten Strömen durch die Stadt, und sie gab einige Tropfen von sich in diesen roten See. Die Seelen labten sich daran, sogen das Leben und erstarkten an Macht.« Sie deutete auf den Unterarm. »Ich verstehe nun, welche Gefühle sie dabei empfanden.« Ihre Euphorie war verschwunden, und sie schämte sich für die gezeigte Gier. Lodrik erkannte bei ihren Worten, welchen Fehler sie begangen hatten. Zvatochna hatte niemals beabsichtigt, eine
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