Brennende Schuld
wollte? Ein Sarg, der leer war. Welcher Sarg, und wo habe ich ihn gesehen?
Es ist auf einem Kirchhof. Glocken läuten. Ein Weg führt steil bergan. Ein Trauerzug folgt dem Sarg schweigend. Ein Mädchen mit Zöpfen und schwarzen Schleifen reiht sich ein. Der Rücken des Mädchens nahe vor ihm. Ihr Gesicht ist groß, voller Leuchten und Spannung. »Was willst du?«, ruft sie laut. »Da ist nichts im Sarg!« Es hallt gegen die Felswände, alle drehen sich um und nicken: Es ist nichts im Sarg … es ist nichts Sarg … wandert das Echo weiter.
Der Wirt winkte mit einem Chupa-Chup-Dauerlutscher über die Theke. Das Kind hatte sich aus seinem Wägelchen befreit und tapste wackelig durch das Lokal. Einer der Bauarbeiter setzte sich zu der Mutter an den Tisch.
Costa sah aus dem Fenster. Er erinnerte sich an ein braunweißes gerahmtes Foto in Laureana Sanchez’ Wohnung – sie als Kind mit ihrem Vater. Mit Zöpfen. War dies das Mädchen aus seiner Erinnerung? Und hat es die Situation auf dem Friedhof überhaupt gegeben?
Ihm fielen wieder Josefas Worte ein: Dann habt ihr beiden euch seit der Beerdigung von Trasilio Sanchez nicht mehr gesehen. Erinnerst du dich daran?
Irgendetwas zog ihn an. Er könnte sie noch einmal aufsuchen und diesen Punkt klären.
Der Habitus eines Menschen ändert sich nie. Den Beweis dafür bekam man auf jedem Klassentreffen geliefert. Der Spaßvogel, der Coole, das Muttersöhnchen, der Schläger – alle blieben, wenn auch über die Jahre ein wenig geschliffen, die Gleichen. Nur bei dieser Sanchez schien es anders zu sein. Es war ihm plötzlich wichtig, wie gut sie sich in ihrer Kindheit gekannt hatten. Wie waren ihre Rollen gewesen? Sie würde es wissen, vermutete er. Wahrscheinlich wusste sie es schon die ganze Zeit und belächelte sein schlechtes Gedächtnis. Oder nahm es als Pose des Polizisten: Wenn ich offiziell unterwegs bin, erinnere ich mich an nichts Privates. Eine lachhafte Haltung, das wollte er auf jeden Fall richtig stellen.
Von seinem Platz im Café aus konnte er das Museo Monográfico sehen. Es schloss gerade, und sieben Touristen wurden von einem uniformierten Angestellten hinausbegleitet.
An einer der Treppen, die beidseitig zur Eingangstür führten, lehnte Charon, der Motorradfahrer. Seinen Helm hielt er in der Hand. Er sah aus wie ein Schüler, der vor dem Mädchengymnasium auf seine große Liebe wartet. Eine Angestellte des Museums? Die Kastanienrote aus dem Büro vielleicht? Da würde er wohl kaum eine Chance haben.
Er rief sie vom Mobiltelefon aus an und fragte, ob Señora Sanchez noch zu sprechen sei. Er erhielt die Antwort, sie sei vor wenigen Minuten in das archäologische Museum in der Altstadt gefahren, wo sie noch ein Büro habe. Costa bedankte sich.
Inzwischen trank die Mutter des Kindes mit dem Arbeiter Rotwein. Er hielt ihre Hand. Das Kind lief, mit dem Lutscher im Mund, aus der Tür auf die Straße. Impulsiv wollte Costa aufstehen, aber das Kind blieb auf dem Bürgersteig stehen, wandte sich wieder dem Café zu und drückte seine Nase an die Scheibe, wo die zwei Langhaarigen saßen. Mit der Zunge lutschte es das Glas ab, während es mit beiden Händchen dagegen schlug. Einer der Langhaarigen zeigte ihm den Mittelfinger.
kapitel fünfzehn
»Wir haben beschlossen, dass du sonntags mit uns frühstückst«, eröffnete ihr eines Tages die Mutter, nachdem sich die Bitternis und Verschlossenheit ihrer Tochter nicht verändert hatten.
Ihr Platz war an der schmalen Seite des Tisches. Die Mutter saß auf der Bank längs der Wand und Onkel Jaume ihr gegenüber.
Die Mutter war schmal und groß, ganz ungewöhnlich für eine Ibizenkerin. Sie hatte schlanke lange Beine, schmale hohe Schultern, einen auffällig schönen Hals. Sie war sehr schlank, obgleich sie wie ein Scheunendrescher aß, wie sie es nach ihrer »Befreiung« ausdrückte.
Zum ersten Sonntagsfrühstück in der Dreierrunde trug die Mutter einen Burberry-Rock, der wie der ganze Rest ihrer Garderobe auch Ausdruck ihrer »Befreiung« war. Darunter eine schwarze Strumpfhose und schwarze halb hohe Lacklederschuhe mit einer samtschwarzenen Schnalle und einem goldenen Bügel. Der schwarze Rollkragenpullover über dem Rock betonte ihre knochigen Schultern und gab ihr eine elegante Einfachheit, die in der Küche seltsam wirkte. Früher war so etwas nicht vorgekommen. Auch hätte sie den Pullover gar nicht tragen können, wenn die Villa Prats’ nicht in jedem Raum unter der Decke eine große weiße Klimaanlage
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