Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brennende Schuld

Brennende Schuld

Titel: Brennende Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
Vom Netzwerk:
Küche verließ, sagte die Mutter: »Du gehst so komisch.«
    Bevor sie die Tür schloss, hörte sie, wie Onkel Jaume leise sagte: »Vielleicht hat sie sich in die Hosen gemacht.«
    Die Mutter lachte, und sie sah in ihrer Vorstellung einen Schwarm Spatzen vom Tisch auffliegen.
     
    Es war für sie eine Zeit des Schreckens, die kurze Zeitspanne seit ihres Vaters Verschwinden bis zu dem Moment, da er wieder Kontakt mit ihr aufgenommen hatte. Danach begann die große Mühe seiner Befreiung. Bis dahin war ihre Kindheit unbeschwert gewesen, und sie hatte geglaubt, es würde immer so bleiben. Alle Menschen wären lieb und nett und hätten nichts anderes im Sinn, als sich das Leben gegenseitig zu verschönern. Mit dem Verschwinden ihres Vaters aber verlor sie den einzigen Menschen, der sie tatsächlich verstand, und sie fühlte sich einsam, konnte mit niemandem mehr sprechen. Eisiges Schweigen umgab sie – wenngleich es mich auch wärmt, weil ich sonst nichts habe.
    Die Verbündeten ihres Schweigens waren die Spiegel in ihrer Wohnung. Als sie in das Haus von Onkel Jaume zogen, bestand sie darauf, dass sie alle mitgenommen wurden, was ihr auch gelang – bis auf den großen Standspiegel im Flur. Manchmal stand sie eine ganze Stunde lang vor ihrem Spiegelbild.
    Eines Morgens, es war noch vor dem Umzug in Prats’ Villa, suchte sie in der Dunkelheit des langen Flures nach den Schuhen ihres Vaters, in denen sie ihre Zahnspange versteckt hatte, und sie hoffte, dass man sie weder weggeworfen noch in seinem Büro eingeschlossen hatte, wo all seine Sachen waren. Sie sah sich in einem hohen Spiegel, der leicht nach vorne geneigt war und bis zur Fußbodenleiste reichte. Sie hatte das Gefühl, die Kette, die das Ungetüm unterhalb seiner goldverzierten Krone hielt und die oben in der Wand befestigt war, könnte sich lösen und der Spiegel sich über sie stülpen wie ein Quecksilberteich. Schnüre mit bunten Birnchen hingen noch vom letzten Neujahrsfest an den Seiten herunter und beleuchteten einzelne Strähnen ihres Haares. Ihre Augenbrauen traten so stark hervor, dass sie dachte, sie blicke in das Gesicht ihres Vaters. Gebannt wartete sie. Sie wartete, ob eine Kraft sie ergreifen und gegen den Spiegel schleudern würde. Ihre Fußsohlen wurden heiß, und sie fühlte eine große Energie bis unter die Kopfhaut. Da fing ihr Spiegelbild an, sich zu bewegen, so dass sie sich zweifach sah: Ein Spiegelbild schaute dem anderen über die Schulter. Das hintere Gesicht wandelte sich in das Antlitz ihres Vaters. Deutlich erkannte sie ihn hinter sich. Seine Lippen formten Worte, und sie verstand, dass er ihr sagte, wo seine Schuhe waren. Ein Gefühl von Glück und Dankbarkeit erfüllte sie. Dunkle Schatten pulsierten über seinem Kopf und seinen Schultern, und das Pulsieren wurde heftiger mit dem zunehmenden Schlag ihres Herzens, und als sie die Luft anhielt, entstand ein heller Lichtschein um ihn herum. Nun wusste sie, sie würde nie mehr alleine sein.
    Sie ging in die Küche, blieb aber an der Tür stehen. Die Mutter machte Tortillas. Onkel Jaume saß am Tisch und schlürfte seinen Kaffee. Dabei hatte er die Ellbogen breit aufgestützt. Kinn und Mund waren von der Tasse verdeckt, und seine großen runden Taleraugen unter der faltigen Stirn taxierten sie. Sie hatte keinen Hunger. Ihre Mutter schimpfte, ob sie endlich ihre Zahnspange gefunden habe, sie würden keine neue kaufen, da könnten ihre Zähne ruhig kreuz und quer wachsen. Seit ihres Vaters Tod war die Zahnspange weg.
    »Ihr braucht mir keine zu kaufen.« Als die Mutter sich umdrehte, grinste sie sie breit an.
    »Dir wird noch das Lachen vergehen«, sagte die Mutter, nahm die Pfanne und häufte das Essen auf Onkel Jaumes Teller. Dann wandte sie den Kopf: »Willst du nichts?«
    Ohne zu antworten, nahm sie einen Apfel aus dem Obstkorb, verließ die Küche und ging in die Schule.
     
    Die Gegend, in der sie nach dem Umzug wohnten, mochte sie nicht, denn Onkel Jaume hatte alle Häuser außerhalb seiner hohen Parkmauer abreißen lassen, um Platz für vier Wohnblocks zu schaffen. Das Baumaterial war schon herbeigeschafft worden, aber es gab ein Problem, man konnte nicht beginnen, und zwischen allem wuchs Unkraut. Die Verzögerung des Baubeginns hing mit einem Haus zusammen, das Jaume Prats nicht kaufen konnte. Es stand in der Mitte der leeren Fläche nordöstlich von der Stierkampfarena. Der Eigentümer gab seine Weigerung auch nicht auf, nachdem alle anderen Häuser gefallen waren. Eines Tages

Weitere Kostenlose Bücher