Brennendes Schicksal (German Edition)
verlassen.«
Sie richtete sich mühsam auf, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den klaren Sternenhimmel. Für einen Augenblick kam es ihr unfassbar vor, dass der Mond und die Sterne leuchteten, als wäre nichts geschehen. Strahlend standen sie am Himmel, ganz so wie immer. Nichts hatte sich verändert. Der Mond hatte nicht den leisesten Farbton eingebüßt, die Sterne ihre Bahn nicht um ein winziges Stück verändert.
Nur für sie war von nun an alles anders. Ihr Leben war zerstört worden. Doch hier, in dieser Nacht am Brunnen, schuf sie sich neu. Circe, die Rächerin.
Sie stemmte die Hände in die Hüften, blickte auf den Mond und stieß einen Schrei aus. Und dieser Schrei war es, der ihrem neuen Leben einen Anfang gab. Dieser Schrei, der die Anwohner im Schlaf erreichte und ihnen Schauer des Entsetzens über den Rücken jagte, sie in ihrer Ruhe störte und schrecklichen Träumen Raum schaffte, gab ihr das Leben zurück.
Eine Weile stand sie, schöpfte Kraft, sog das Licht des Mondes und die Kälte der Sterne wie Brot und Wein in sich hinein. Dann wusch sie sich behutsam, wusch die letzten Reste des alten Lebens, Blut und stinkenden Samen, von sich ab.
Als die ersten Hähne sich den Schlaf aus den Federn schüttelten, passierte sie das Stadttor. Sie warf keinen Blick zurück, sondern hatte die Augen fest auf ein fernes Ziel gerichtet. So schritt sie, langsam und unter Schmerzen, aber lebendig wie selten zuvor, ihrem neuen Leben entgegen.
Erster Teil
Siena,
einige Monate später,
im Jahre 1530
Erstes Kapitel
Die Turmuhr des Torre del Mangia auf der Piazza del Campo in Siena schlug die achte Stunde. In den Häusern, die den muschelförmigen Platz umstanden, den schönsten Platz Italiens, wenn nicht gar der Welt, verloschen allmählich die Lichter in den Kontoren und Faktoreien, in den Werkstätten und Läden, während in den Wohnzimmern die ersten Kerzen aufflackerten.
Nur aus dem großen Saal des Palazzo Pubblico, des Rathauses, drangen schmale Lichtstreifen zwischen den geschlossenen Holzläden hervor.
Zwei Nachtwächter, die mit brennenden Fackeln ihre Runde drehten, blieben stehen und sahen neugierig hinauf.
»Man erzählt sich«, sagte der eine, »dass der Visconte Angelo da Matranga in diesem Jahr eine ganz besondere Aufführung zu Ostern plant. Seit Allerheiligen üben die Künstler schon, doch da Matranga ist noch immer nicht zufrieden.«
»Bis Ostern sind es noch acht Wochen.« Der andere winkte beruhigend ab. »Der Visconte hat es bis jetzt in jedem Jahr geschafft, ganz Siena mit seiner Aufführung zu überraschen, und ich bin sicher, er wird uns auch in diesem Jahr nicht enttäuschen.«
Die beiden Männer verharrten noch einen Augenblick und lauschten, doch die Fenster des Palazzo Pubblico waren so fest geschlossen, dass sie nicht einen einzigen Laut hören konnten. Die Männer zuckten mit den Schultern und schickten sich an, die Stadt in die Nacht zu begleiten, doch im großen Rathaussaal herrschte noch reges Treiben.
Der Saal war weniger als zu einem Viertel gefüllt. In den Logen saßen ein paar Leute, Mitglieder des Rates, und sanken mit jeder halben Stunde tiefer in die granatroten Polster der Stühle. Zwei schliefen mit offenen Augen, einer hatte die Arme vor der Brust gekreuzt und schnarchte leise.
Im Saal herrschte diffuses Dämmerlicht. Nur jede zweite Fackel brannte an den Wänden, der große schwere Leuchter hing mit erloschenen Kerzen von der Decke. Lange Schatten lagen unbewegt über dem Saal. Vorn stand eine Gruppe von Frauen und Männern. Sie wisperten, summten und tuschelten wie ein Bienenschwarm. Hin und wieder stieg eine Kaskade glockenhellen Gelächters hinauf zum bemalten Deckenfries des Saales, der ebenfalls im Halbdunkel lag.
Die Tür ging auf, und der Windzug bewegte die Schatten, sodass der gemalte Löwe des Frieses plötzlich lebendig und zum Sprung bereit wirkte, ein tödliches Funkeln in den Augen.
Der Saaldiener schwenkte ein Glöckchen, die Männer in den Logen erwachten, beugten sich vor, die Arme auf das Geländer gestützt.
Die Gruppe vorn im Saal löste sich auf, formierte sich neu, bis auf der einen Seite die Männer standen und auf der anderen die Frauen.
Musiker stimmten ihre Instrumente. Eine Laute wurde gezupft, am Spinett eine Taste angeschlagen, die Mohrenpauke geklopft, die Schalmei an den Mund gehoben, in die Flöten geblasen. Ein Tamburin schwang klirrend und klingelnd. Wie Nebel stiegen die Töne auf, ein dunkler Nebel aus
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