Bretonische Brandung
getrunken hatte, konnte es vorkommen, dass Kommissar Dupin in seinen Formulierungen ein wenig pathetisch wurde, ohne es zu merken. Was er merkte, war, dass er jetzt vorsichtig sein sollte mit weiterem Wein.
»Ich habe mit Madame Lefort gesprochen. Sie können das Appartement heute Nacht haben. Sie sollten alles dann direkt mit ihr klären.«
»Ich danke Ihnen sehr, das ist ungemein freundlich.«
Madame Nuz drehte sich um.
»Entschuldigen Sie, Madame Nuz – ich hätte eine Frage.«
Sofort wandte sie sich ihm wieder zu.
»Natürlich.«
»Es mag ungewöhnlich klingen – aber meinen Sie, wir könnten uns gleich alle zusammensetzen? Alle Bewohner der Inseln und die Stammgäste. Wenn alle gegessen haben.«
Madame Nuz lächelte ihr typisches Lächeln. Zustimmend.
»Am besten kommen wir dann an Ihren Tisch, Monsieur le Commissaire.«
»So machen wir es.«
Madame Nuz ging zur Theke zurück. Dupin widmete sich wieder dem Fischtopf. Und dem dritten Glas Wein, bei dem er schwor, dass es heute Abend sein letztes sein würde.
Sie aßen die Cotriade bis auf den letzten Bissen auf – es waren wirklich große Portionen –, ohne ein einziges Wort miteinander zu wechseln. Andächtig. Trotz der angespannten Lage ein bisschen glückselig.
Alle zwei, drei Minuten gab es einen gewaltigen Schlag. Unregelmäßig zwar, aber nie ohne lange Abstände. Es klang, als würde etwas Großes, Mächtiges auf die Hinterseite des Hauses treffen. Die Schläge waren dumpf, wurden aber begleitet von hellen, metallischen Geräuschen, die unmöglich zu bestimmen waren.
Der Sturm hatte in der letzten halben Stunde weiter zugelegt. Er musste jetzt irrsinnige Geschwindigkeiten erreicht haben. Auch der Lärm im Steinhaus hatte zugenommen, nun war es hier annähernd so laut wie eben im hölzernen Anbau. Dupin war einmal aufgestanden und Richtung Tür gegangen, er hatte, ohne groß nachzudenken, schauen wollen, wie es draußen aussah. »Tun Sie das nicht!«, hatte Solenn Nuz im letzten Moment durch den ganzen Raum gerufen. Sie hatte es immer noch freundlich gerufen, dennoch war es eine peinliche Szene gewesen. Dupin hatte sich daran erinnert, wie Anjela Barrault die Bar betreten hatte – und erst dann realisiert, was passieren würde, wenn eine noch stärkere Böe in die geöffnete Tür wehte. Er war dann rechts zu dem kleinen Fenster gegangen und hatte hinausgeschaut. Und rein gar nichts gesehen. Keine Welt. Nichts. Nur ein tiefschwarzes Loch. Der Blick verlor sich auf den ersten Zentimetern. Wenn man den Blick direkt auf die Scheibe fokussierte, sah es aus, als würde draußen jemand mit einem voll aufgedrehten Gartenschlauch auf das Fenster spritzen, so lief der Regen das Glas herunter. Dupin hatte noch nie einen solchen Sturm erlebt. Sie waren ihm restlos ausgeliefert, es gab nichts als diese paar alten Mauern um sie herum. Die Stimmung hatte sich verändert, der Sturm zerrte an den Nerven. Nur noch wenige Stimmen und Gespräche waren an den Tischen zu hören. Selbst bei den Unterwasserarchäologen war es merklich ruhiger geworden, nachdem sie zunächst mit Abstand die Ausgelassensten gewesen waren. Nur den Einwohnern der Welt hier draußen war keinerlei besondere Gemütsregung anzumerken, allen voran Solenn Nuz.
An den eckigen Tischen, die sie zusammengestellt hatten, um Platz für alle zu schaffen, war es sehr eng geworden. Solenn Nuz saß rechts von Dupin, daneben Leussot; links von ihm Anjela Barrault, daneben Riwal, schräg gegenüber Madame Menez und Louann Nuz, genau gegenüber Muriel Lefort, daneben Tanguy und Le Coz.
»Was ist das? Diese Schläge?«
Riwal war die Anspannung anzumerken.
»Bei großen Stürmen geht es zuweilen nicht mit rechten Dingen zu«, grinste Leussot.
»Groac’hs gierige Hand, sie klopft.«
Kilian Tanguy, der plötzlich einen ungekannt kecken Ton anschlug, hatte ebenso seinen Spaß. »Oder es ist das Klopfen, auf das die uralte gestaltlose Stimme folgt. Wenn sie deinen Namen ruft, hast du keine Wahl. Sie führt dich zur Baie des Trépassés, der Bucht der Verblichenen. Ein Boot wartet auf dich, das tief im Wasser liegt und schwer beladen scheint und doch ganz leer ist. Die Barke der Toten, die auf ihre Überfahrt warten. Ein Segel hisst sich wie von Geisterhand, und es ist dir aufgegeben, sie sicher zur Île de Sein zu steuern. Sobald die Barke die Insel erreicht hat, verlassen die Seelen sie. Dann darfst du zurück, zu deiner Familie. Alles wird bloß ein Schatten sein, aber du bist nie mehr
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