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Bretonische Brandung

Bretonische Brandung

Titel: Bretonische Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Luc Bannalec
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derselbe.«
    Tanguy riss die Augen auf, sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse.
    »Und das ist noch ein glückliches Schicksal. Wenn man Pech hat, ist es der schattenhafte Ankou selbst, der klopft, der Todesbote und Friedhofswächter, ein in einen schwarzen Umhang gehülltes Skelett, das eine Sense hält. In Nächten wie dieser hört man seinen uralten Karren ächzen.«
    Leussot und Tanguy inszenierten ein düsteres Duett.
    »Oder es sind die Toten selbst, die verlorenen Seelen, die einen arglistig hinters Licht führen. In Sturmnächten mimen sie in Not geratene Seeleute, um die Lebenden aufs Meer zu locken.«
    Dupin kannte diese Geschichten mittlerweile, nicht alle – das war unmöglich –, aber viele. Seit Hunderten, Tausenden Jahren erzählte man sie sich hier am sturmumtosten Ende der Welt, und bis heute waren sie »real«. Keine römische Zivilisation, keine Christianisierung, keine Neuzeit, keine Aufklärung oder irgendeine andere flüchtige Neuerung hatten irgendetwas daran ändern können. Die großen »Festivals Paroles«, auf denen Erzähler die alten Epen, Sagen, Mythen und Legenden dramatisch vortrugen, hatten gerade seit ein paar Jahren wieder Konjunktur. Waren diese Legenden typisch für die Bretonen wie wenig anderes, so war, fand Dupin, die wunderbare Art, wie sie den Schrecken dieser Geschichten im Leben dann auch wieder minderten, sogar noch typischer. Wie sie ganz praktische, ganz eigene (und nicht selten: köstliche) Riten fanden, um den Schauder zu mindern und ihn in das Leben einzubinden – für die verlorenen Seelen beispielsweise wurden an Allerheiligen Crêpes gebacken, viele Crêpes.
    Riwal war anzusehen, dass er das alles nicht lustig fand. Auch Le Coz’ Gesicht zeigte erkennbar Beklemmung – und Dupin musste zugeben, dass diese Geschichten an solchen Orten, in solchen Stimmungen sehr viel stärker wirkten als sonst.
    Doch da lenkte Leussot auch schon ein.
    »Wir werden bei Tageslicht sehen, was diesen Lärm verursacht hat. Glauben Sie uns, wir sind nicht in Gefahr. Das ist völlig normal.«
    Er hatte das ernst und beruhigend gesagt, und Riwals Miene entspannte sich wirklich ein klein wenig, auch wenn nicht klar war, was dieses »völlig normal« meinte.
    Dupin hatte sich viel erhofft von der Idee, alle an einen Tisch zu bringen. Allerdings verliefen die Gespräche äußerst schleppend, genauer: Bis auf das Schauerduett war eigentlich keinerlei Gespräch in Gang gekommen, seit sie hier saßen. Vereinzelt sagte jemand einen Satz, auf den aber niemand wirklich reagierte. Die meisten sagten gar nichts, nicht mal diejenigen, die sonst viel redeten. Und Dupin sah sich – physisch wie psychisch – nicht mehr in der Lage, eine Art »Gruppenbefragung« durchzuführen oder das Gespräch ständig neu zu stimulieren. Es war wahrscheinlich ohnehin eine lächerliche Idee gewesen. Ohne Zweifel lag das Schweigen auch daran, dass keiner der Anwesenden wusste, worauf der Kommissar eigentlich hinauswollte. Es war eine künstliche Situation.
    »Und hier wollte Lucas ein Touristenparadies errichten!«
    Leussot lachte laut auf. Keiner der anderen lachte mit. Es wirkte makaber.
    »In so einen Sturm ist mein Bruder hineingefahren«, konstatierte Muriel Lefort plötzlich, unpathetisch.
    Auch dieser Satz verhallte zunächst ohne Resonanz.
    »Von hier aus sind schon einige in einen Sturm hineingefahren, die es noch aufs Festland schaffen wollten. Dachten, sie beherrschen alles.«
    Das war das erste Mal, dass sich Anjela Barrault in dieser Runde überhaupt geäußert hatte.
    »Aber die hatten keine Beruhigungsmittel verabreicht bekommen.«
    Leussot klang aggressiv. Sein Blick hatte sich einen Moment lang verfinstert. Dupin schöpfte Hoffnung, auf so etwas hatte er gesetzt. Er wartete. Aber nichts passierte. Leussot hatte sich bereits wieder gefangen, und es schien nicht so, als wollte jemand darauf reagieren.
    »Wie häufig ist es passiert, dass von hier aus jemand zu spät aufgebrochen ist?«
    Dupin wusste, dass es ein ungelenker Satz war. Es war ihm egal. Vielleicht ergab sich ja doch noch etwas.
    »Meistens waren es Segler, die hier Station machten und die die Situation unterschätzten. Vor fünf Jahren ein Bäcker aus Trégunc, der sich gut auf dem Meer auskannte«, Tanguy schien betreten, »das war besonders schlimm, er machte weit und breit das beste Baguette.«
    »Am tragischsten war das mit der Nichte vom Institutsdirektor, Le Berre-Ryckeboerec. Alice. Vor drei Jahren, mit ihrem Mann. Gerade

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